In der Moritzkirche „angelt“er Töne
Früher schrieb Markus Mehr erfolgreiche Popsongs, heute interessiert er sich für den Klang eines Raumes – zu hören auf seinem neuen Album „Brief Conversations“
Woran denken viele beim Wort „Musik“? An Mitsingmelodien, klar, an schöne Harmonien, einen tanzbaren Rhythmus – wichtige Bausteine für einen guten Popsong. Davon hat Markus Mehr mit seinen Bands Unemployed Ministers und Aroma auch so einige geschrieben. Doch irgendwann reichte es ihm mit Eingängigkeit und 3-Minuten-Korsetts: „Ich wollte aus dem Popknast ausbrechen. Es ist schwer, einen guten Popsong zu schreiben, aber nichts ist schwieriger als sich davon zu lösen.“Das Weglassen der erwähnten Bausteine habe ihn interessiert, die Auflösung der Systeme, so erzählt der Musiker.
Wobei, ein Instrumentalist im herkömmlichen Sinne ist Markus Mehr nicht mehr. Er ist vielmehr
Phonograph. Eine Fotografie zeigt einen Ausschnitt des Lebens als Bild, eine Phonographie lässt ihn klingen. Diese „im Raum geangelten Geräusche“werden zu Hause im Studio dann in ihre Kleinstteile zerlegt, „gedreht und gewendet und wieder neu zusammengebaut. Allerdings ist es wichtig, dass die Quelle des Klangs noch erkennbar bleibt.“
Das Konzept hinter seinem neuen Album „Brief Conversations“(Hidden Shoal Records) ist der Dialog mit Räumen aller Art. Mehr saß nachts alleine in der Moritzkirche, stundenlang, und angelte Töne. Er entdeckte ein nicht zuzuordnendes Surren in der Augsburger Synagoge. Er nahm den Klang der alten Radarstation auf dem Berliner Teufelsberg auf. Der Klang eines Raumes verändert sich durch seine Beschaffenheit, durch das Material der
Wände, durch die An- oder Abwesenheit von Möbeln und Menschen, selbst durch das Wetter draußen. Im Studio bekommen die Aufnahmen eine Dramaturgie, entwickeln zu jedem Raum eine Bildergeschichte voller Gegensätze; für die Bilder sorgt die Fantasie des Zuhörers.
Das kann dann folgendermaßen klingen: Anschwellendes, dann wieder abklingendes Vibrieren, im Hintergrund hallen hohe Töne einer nicht anwesenden Harmonie, ein weit entferntes Dröhnen, dann fast absolute Stille, bevor Engelsgesang mit Störgeräuschen den Raum erfüllt. „Build Towards the Light“heißt das Stück, und das geistige Auge sieht in der Bildergeschichte den kleinen, hellen Punkt am Ende des Tunnels und einen Sonnenstrahl, der hinter einer dunklen Wolke hervorbricht.
Was ist das nun für Musik? Es gibt Kategorien wie „Drone“, tiefes, rhythmusloses Dröhnen, oder „Ambient“, sphärische Musik ohne Songstruktur. Doch das wäre zu einengend. Es sind Klänge, die man aus großen Museen der modernen Kunst kennt, in schwarz verhangenen Räumen, einen experimentellen Kurzfilm untermalend. Seine Mutter nenne es Lärm, erzählt Mehr. Oft wird auch die Non-MusicSchublade aufgemacht, aber das würde der Kunst Markus Mehrs nicht gerecht werden. Es ist Musik, nur dass sie eben „diametral zu Musik ist, die man so nebenbei hören kann“. Sie fordert Zeit und Aufmerksamkeit vom Zuhörer, und sei es nur für ein paar Minuten. Oder, wie Markus Mehr es unverblümt sagt: „Ich will dich mit Haut und Haar.“