Fußball in der Fernbeziehung
Die Bundesliga ist zurück, doch volle Ränge wird es lange nicht geben. Fans müssen lernen, ein Leben ohne ihre Leidenschaft zu führen – so wie Harald Bauer. Über die Sehnsucht nach den Stammplatzkumpels, Angst vor dem Ausverkauf und neue Freuden am Samsta
Die aktive Fanszene will keine Geisterspiele
Eigentlich hätte Harald Bauer aus Königsbrunn sich an diesem Samstag sein rotes Trikot angezogen. Er wäre losgeradelt, hätte auf dem Weg ein, zwei Freunde getroffen. Die Augsburger Ulrichskirche und den Hotelturm im Blick gehabt und die B17 passiert. Mit jedem Kilometer auf seinem Weg wäre er mehr und mehr Menschen begegnet. Viele davon wie er in einem Trikot, manche auch in Rot, einige in Grün, viele in Weiß. Ihr Ziel: die WWK-Arena, das Stadion des FC Augsburg. Doch Menschenmassen werden ausbleiben, wenn die Bundesliga an diesem Samstag zurückkehrt aus ihrer Zwangspause, in die sie wegen der Corona-Pandemie musste. Ist der Neustart das Ende der Leidenszeit für Fußballfans?
Vielleicht ist er sogar erst der Anfang.
An diesem Samstag hätte der FC Augsburg eigentlich gegen RB Leipzig gespielt, am letzten Spieltag der Bundesliga-Saison. Vielleicht hätte es ein Finale um den Klassenerhalt gegeben, Harald Bauer wäre dabei gewesen. Stattdessen sitzt er am Samstag im Wohnzimmer, nur mit seinem Nachbarn. Sie schauen zu, wie die Bundesliga-Fußballer wieder aufs Feld dürfen, während fast alle anderen Ligen der Welt ruhen, Europas Grenzen dicht und Deutschlands Restaurants geschlossen sind. Die Liga macht keinen Hehl daraus: Es geht um Geld, um Jobs, angeblich um die Existenz mancher Vereine. Einen positiven Effekt für „die gesamte Menschheit“solle der Neustart sogar haben, sagte der frühere Bundesligatrainer Ralf Rangnick. Wenn Harald Bauer darüber spricht, spürt man nichts von diesem schwülstigen Pathos. „Aus ökonomischer Sicht kann ich es verstehen“, sagt er. „Aber ich freue mich nicht so richtig darauf.“Kurz vor 15.30 Uhr an diesem Samstag wird er den Fernseher anschalten. Für den FCA geht es gegen Wolfsburg statt RB Leipzig, an Spieltag 26 statt 34, vor null Zuschauern statt 30000. Der Receiver im Schrank, auf dem der Fernseher steht und über den Bauer die Spiele empfängt, hat ruhige Wochen hinter sich. So wie der Besitzer.
Entspannt sitzt der 59-Jährige auf dem braunen Sofa in seinem Wohnzimmer. Er hat stets ein leichtes Lächeln auf den Lippen und fast keine Haare mehr auf dem Kopf. Ganz unaufgeregt erzählt er davon, wie er sich aufregt. Aber nur dann, wenn der Ball rollt. Er hat eine Dauerkarte beim FCA, sitzt bei jedem Heimspiel in Block R. 90 Minuten lang fiebert er mit, brüllt, schimpft, jubelt. „Was die Schiedsrichter sich manchmal von mir anhören müssen“, sagt er, sein Lächeln wird zu einem Grinsen. „Der Fußball geht mir ab, das ist doch klar.“Und die Geisterspiele bringen ihn nur teilweise zurück. Denn für Bauer geht es um mehr als zu erfahren, wer besser kicken kann. Da ist sein Arbeitskollege Robert in der Bank in Mering, mit dem er sonst jeden Montagmorgen bei einem Kaffee fachsimpelt – doch der während Corona an einen anderen Standort versetzt
Da sind seine Sitznachbarn auf ihren Stammplätzen im gleichen Block, die er nur bei Heimspielen sieht. Das Stadion ist ein sozialer Schmelztiegel.
Davon können viele erzählen, Florian Tüchert etwa. Der 28-Jährige hatte früher eine Dauerkarte beim FC Augsburg, bis er 2019 zum Arbeiten nach Bremerhaven ziehen musste. In der fremden Stadt half ihm der Fußball, mit Menschen in Kontakt zu kommen. Wenn der FCA in der Nähe spielte, in Wolfsburg, Bremen oder zum DFB-Pokal in Verl, war er da. Und wenn er Zeit hatte, ging er einfach so ins Stadion, schaute Spiele in Osnabrück oder in den Niederlanden. Aber gerade gehe es auch ohne Fußball, sagt er. Geisterspiele empfindet er als eine „Beleidigung für Fans“.
Auch die aktiven Fanszenen in Deutschland haben bekundet, dass sie diese nicht wollen. Jennifer Schnabel ist Vorsitzende des Vereins Ulrich-Biesinger-Tribüne, welcher die Fans auf der Stehplatztribüne im FCA-Stadion vereinen will. Natürlich fehle ihr der Sport, sagt sie, Jubel und Enttäuschung, die mit dem Spiel verbunden sind. Doch: „Fußball ist nicht systemrelevant“, sagt sie. „Es ist unverantwortlich, die Spieler in Gefahr zu bringen.“Corona-Tests für Fußballer würden „an anderer Stelle sicher dringender benötigt“. Die Geisterspiele wolle sie lieber im Radio verfolgen als ein
abzuschließen. Sie, die sonst durch ganz Deutschland reist, um den FCA zu sehen.
Ihre Kritik teilen viele Fans, aber nicht alle. Sandra Marx aus Wemding in Nordschwaben etwa freut sich auf den Neustart. Zwar wäre sie gerne im Stadion, doch: „Auch wenn es nur Geisterspiele sind, ist das besser als keine Bundesliga.“Nach zehn Wochen Warten ist es nicht mehr so wichtig, dass ihre Dauerkarte jetzt nutzlos ist.
Zehn Wochen, in denen Harald Bauer seine FCA-Uhr nicht mehr angezogen hat. Sie liegt in einer kleinen Vitrine auf seiner Kommode neben vielen anderen Uhren, soll Glücksbringer sein. „Aber das klappt nicht so oft“, sagt er und lacht. „Man weiß nie, was passiert. Deshalb bin ich gerne FCA-Fan. Immer wenn ich ins Stadion gehe, kribbelt es.“Auswärtsspiele gehören für Bauer auch dazu. Jede Saison fährt er zumindest einmal im Bus der Traditionsmannschaft des FCA mit, wenn sie gegen die Ex-Profis eines anderen Bundesligisten spielt – am gleichen Wochenende, an dem auch die Bundesligateams aufeinandertreffen. Bauer greift nach seinem Handy auf dem Wohnzimmertisch, eingepackt in eine FCA-Hülle. Er zeigt Videos vom Ausflug nach Köln im November, aus einem „großartigen Stadion“, wie er sagt. Präsentiert ein gemeinsames Bild mit Salva, dem FCAZeugwart. Oder mit Jürgen Haller. Dessen Vater, die Augsburger Fußball-Legende Helmut Haller, hatte Bauer in den Siebzigern noch selbst im Rosenaustadion spielen sehen. Damals spielte Bauer noch Jugendwurde. fußball. Der Sport war noch kein Milliardengeschäft.
Geisterspiele, als Dauerlösung nur fürs Fernsehen, waren undenkbar. Eine Zeit, die Ultras dem modernen Fußball vorziehen würden. Sie sind die Gruppierung, die im Stadion meist für Stimmung sorgt, aber auch kritisiert und provoziert. Im März standen die deutschen Fanszenen aufgrund von Schmähplakaten in der Kritik, schon damals verwiesen sie immer wieder auf ihr gesellschaftliches Engagement. Nun werde dieses auch wahrgenommen, sagt Gunter A. Pilz. Er ist Sportsoziologe und Mitglied der Deutschen Akademie für Fußballkultur. In Augsburg etwa halfen Fans ihren Mitmenschen mit mehreren Aktionen wie einer Einkaufshilfe oder Care-Paketen für die Drogenhilfe. Die Fankultur in Deutschland habe sich in den vergangenen Wochen nicht verändert, sagt Pilz, doch sie werde nun wertgeschätzt. Die Zeit der Geisterspiele werden die Fans seiner Einschätzung nach ertragen. „Der Fußball ist wichtig als Ventil, wir können all unsere Emotionen rauslassen“, sagt Pilz. „Aber wenn das nicht wiederkommt, ist der Fußball tot.“Alleine vorm Fernseher funktioniere das nur bedingt. „Man braucht die Gemeinschaft.“
Zurück bei Harald Bauer, zu Hause in seinem Wohnzimmer. An der Wand hinter ihm hängen Bilder seiner Kinder und seiner Frau. Erst am vergangenen Wochenende hat er Kinder und Enkel zum ersten Mal nach langen, strengen Beschränkungen wiedergesehen. Ohne Corona hätte Bauer zumindest den SamstagFernseh-Abo nachmittag damit verbracht, das Auswärtsspiel des FCA in Düsseldorf im Fernsehen zu schauen. Jetzt hatte er gleich zwei Familientage am Wochenende. Sehnsüchtig hatte er auf das Wiedersehen gewartet. Viel sehnsüchtiger als auf die Bundesliga-Rückkehr an diesem Samstag, um 15.30 Uhr. Eigentlich ist das die Uhrzeit, die Fußballfans Woche für Woche kaum erwarten können.
Das ist die traditionelle Uhrzeit, zu der die Liga anstößt. Kein Zeitpunkt der Woche macht es so leicht, zu Tausenden selbst aus dem Allgäu nach Bremen zu fahren, weil viele Leute frei haben und ins Stadion gehen können. Doch seit Jahren verteilt die Liga Spiele zusehends über das Wochenende und darüber hinaus, um attraktiver für Fernsehzuschauer zu werden. Die Anstoßzeit ist deshalb zu einem Symbol für den Konflikt geworden, der seit Jahren den Fußball bestimmt. Denn wie es weitergeht mit der Liga, das entscheidet nicht das Spitzenduell Bayern gegen Dortmund. Es entscheidet die Frage, was die Liga zu opfern bereit ist, um ihren Profit zu sichern – oder ihr Überleben.
In den vergangenen Jahren fanden sogar Spiele am Montagabend statt, wenn viele fast automatisch vorm Fernseher sitzen. Arbeitnehmer, die dann ihren Verein auswärts live sehen wollen, brauchen dafür häufig zwei freie Tage. Gegen Montagsspiele haben die Kurven heftig protestiert. Dass die Fans im Stadion nur zweitrangig sein könnten, mag absurd klingen. Doch jetzt, im Notbetrieb, plant die Liga sogar ganz ohne ihr Stadionpublikum.
In England sind die aktiven Fanszenen schon lange Randerscheinungen – und die Liga dort setzt so viel Geld um wie keine andere. Das dortige Geschäftsmodell basiert auf horrenden Fernseheinnahmen und Dauerkarten, die sich meist nur noch betuchte Leute leisten können. Englands Fußballstadien sind seit Jahren stehplatzfrei und gentrifiziert. FCA-Stehplatzfan Schnabel ist sich sicher, dass Geisterspiele zeigen werden, dass Deutschland den englischen Weg nicht einschlagen könnte. „Der deutsche Fußball verkauft sich gerade wegen der Fans so gut – sportlich wie wirtschaftlich.“
Harald Bauer greift ins obere Fach der Garderobe im Flur. Er wühlt ein wenig, dann zieht er zwei Schals hervor, eine Mütze und noch einen Schal, alle in Rot-Grün-Weiß wie der FC Augsburg. „Schal und Mütze trage ich immer im Stadion“, sagt er. In den vergangenen Wochen sind sie im Fach nach hinten gerutscht. Das wird nicht so bleiben, zumindest den Schal wird er vorm Fernseher anziehen. An diesem Samstag hat der FC Augsburg ein Heimspiel, doch Harald Bauer darf nicht dabei sein. Er sitzt im Wohnzimmer und schaut, wie sein Verein gegen den Abstieg kämpft. Doch die Entscheidung um den Klassenerhalt ist weit weg. Es ist Mitte Mai, aber bis die Bundesliga ihre Abschlusstabelle kennt, wird es noch mindestens einen Monat dauern.
Die Anstoßzeit ist Symbol für einen großen Konflikt