Scholz – wer sonst?
Die SPD sucht einen Kanzlerkandidaten. Unter anderen Umständen, in einer anderen Partei wäre diese Frage längst beantwortet. Die Sozialdemokraten aber scheuen das Offensichtliche
R olf wer? Bis zum Rücktritt von Andrea Nahles vor knapp einem Jahr war der Abgeordnete Rolf Mützenich ein Mann aus dem Maschinenraum der Macht – kaum bekannt außerhalb der SPD, in Partei und Fraktion aber als integerer Kollege geschätzt. Einer, auf den man sich verlassen kann, den es bis dahin aber nicht auf die große Bühne gezogen hatte. Dass er neuer Fraktionsvorsitzender wurde, war vor allem einem Umstand geschuldet: der 60-jährige Außen- und Verteidigungspolitiker war der dienstälteste Stellvertreter von Nahles.
Keine zwölf Monate später wird eben jener Mützenich als Kanzlerkandidat der SPD gehandelt – als habe die Partei nicht schon Probleme genug. Ein Sozialdemokrat, den kaum einer kennt, deutlich links von der Mitte positioniert und in elementaren Fragen wie der nach der atomaren Abschreckungspolitik der Nato von geradezu provozieden, Naivität: Unter den vielen Spitzenleuten, die die SPD schon verschlissen hat, würde Mützenich ein ähnliches Schicksal drohen wie Martin Schulz: Von der Partei voller Sehnsüchte und Erwartungen in eine neue politische Umlaufbahn geschossen – und am Wahlabend dafür umso härter wieder gelandet. Eine gute Nummer zwei wie Mützenich ist ja nicht automatisch auch eine gute Nummer eins.
Die SPD ist in Wahlkämpfen immer gut gefahren, wenn sie einen Spitzenkandidaten mit Regierungserfahrung hatte, der zugleich auch für eine Politik der ökonomischen Vernunft stand. Das galt für Gerhard Schröder im Bund genauso wie für Stephan Weil in Niedersachsen oder Olaf Scholz in Hamburg. Mit ihnen war (und ist) die SPD auch für Wähler aus dem bürgerlich-liberalen Spektrum wählbar, sie haben ihren Parteien einiges zugemutet, aber gezeigt, dass man ihnen das Land anvertrauen kann. Vor allem Scholz hat enorm an Ansehen gewonnen. Unter anderen Umstänin einer anderen Partei wäre der Finanzminister damit der natürliche Kanzlerkandidat. In der SPD aber laufen die Dinge immer etwas anders. Sie liebt Olaf Scholz nicht, sie respektiert ihn allenfalls: Zu kühl, zu pragmatisch, nicht links genug. Solide zu regieren, ist für die Partei kein Wert an sich. Nur deshalb konnte Martin Schulz Spitzenkandidat werden, der noch nie ein Ministerium, ein Bundesland oder wenigstens eine Großstadt geführt hat. Nur deshalb fällt jetzt immer häufiger der Name Mützenich.
Immerhin haben die neuen Parteivorsitzenden Norbert WalterBorjans und Saskia Esken eingesehen, dass eine Kanzlerkandidatur für sie eine Nummer zu groß wäre. Nachdem es ihnen nicht gelungen ist, die Partei aus dem Umfragetal herauszuführen, sind sie allenfalls die Kandidatenmacher. Aber haben sie auch die strategische Weitsicht und die menschliche Größe, ihrer Partei nicht den strammen Linken Mützenich, sondern Scholz zu empfehlen? Oder versuchen sie, um den ehrgeizigen Finanzminister auszubremsen, andere für eine Kandidatur zu gewinnen? MecklenburgVorpommerns von einer Krebserkrankung genesene Ministerpräsidentin Manuela Schwesig etwa oder Sozialminister Hubertus Heil?
So unübersichtlich die Lage noch ist, so chancenreich ist sie auf der anderen Seite auch. Der ursprünglirender che Plan der SPD, erst abzuwarten, wen die Union auf den Schild hebt, hat sich zerschlagen, weil die Corona-Krise die Entscheidung über den Parteivorsitz der CDU um mehrere Monate vertagt hat. Aus diesem strategischen Dilemma kommt die Partei allerdings leicht heraus, wenn sie früh und (vor allem) geschlossen Farbe bekennt. Einen überzeugenden Kandidaten zu haben, während die Konkurrenz noch immer mit sich ringt, ist in der Frühphase eines Wahlkampfes sicher kein Nachteil – und die beginnt erfahrungsgemäß ein Jahr vor der Wahl, also in diesem Herbst.
Scholz steht bereit. Er will kandidieren, aber er weiß nicht, ob die Partei ihn auch lässt. Bei Umfragewerten weit unter 20 Prozent sind auch seine Chancen, Kanzler zu werden, gering. Für die SPD aber wäre schon viel gewonnen, wenn sie sich wieder als zweite Kraft vor den Grünen stabilisieren würde – mit Olaf Scholz, dem Mann der Mitte, als Partei der Mitte. Alles andere ist politisches Harakiri.