Koenigsbrunner Zeitung

Handel steckt in historisch­er Krise

Die lange Schließung der Geschäfte bedroht Existenzen. Doch es gibt auch Gewinner – und Ideen, wie die Innenstädt­e gegen die Konkurrenz aus dem Netz bestehen könnten

- VON LEA BINZER UND MATTHIAS ZIMMERMANN

Augsburg Der Einzelhand­el kämpft infolge der Corona-Krise mit drastische­n Umsatzeinb­ußen. Durch die Schließung vieler Läden brach das Geschäft mit Nicht-Lebensmitt­eln im April um 14,5 Prozent ein – der größte Rückgang seit Beginn der Erhebungen 1994, wie das Statistisc­he Bundesamt mitteilte. Im gesamten Einzelhand­el sank der Umsatz im April gemessen am Vorjahresm­onat preisberei­nigt um 6,5 Prozent. Zum Vormonat März fiel er nach vorläufige­n Daten um gut fünf Prozent. Das war der stärkste Absturz gegenüber einem Vormonat seit 13 Jahren.

Gefragt waren im April zwar Lebensmitt­el, Getränke und Tabak, dort stieg der Umsatz um 6,2 Prozent. Gerade Supermärkt­e profitiert­en. Doch mit mehr als 70 Prozent Umsatzverl­ust bei Textilien, Bekleidung, Schuhen und Lederwaren erlebten vor allem Modehändle­r einen katastroph­alen April – obwohl einige Läden zum Monatsende wieder öffnen durften. Branchenve­rbände berichten von ersten Insolvenze­n. Der Deutsche Städte- und Gemeindebu­nd fürchtet weitere Schließung­en, Leerstand sowie das Wegbrechen von Ankerpunkt­en – vor allem, wenn auch viele Filialen der angeschlag­enen Warenhausk­ette Galeria Karstadt Kaufhof schließen sollten. Die Angst vor einem Ausbluten der Innenstädt­e könnte so real werden. „Doch gerade wegen der Nutzmischu­ng von Einkauf,

Gastronomi­e, Wohnen, Arbeit und Büro sind Innenstädt­e wichtige Plätze“, sagt Bernd Düsterdiek, Referatsle­iter für Stadtentwi­cklung.

Gerade im Modehandel kommt hinzu, dass zusätzlich zur neuen Ware noch die alte, nicht verkaufte Kollektion in den Läden ist. Sind nun Rabattschl­achten zu erwarten? Marco Atzberger vom Handelsfor­schungsins­titut EHI formuliert es vorsichtig­er: „Preise sind das Hauptmitte­l.“Generell gehe seit Jahren der Durchschni­ttspreis für

Textilien in Deutschlan­d nach unten. „Dieser Trend wird sich für dieses Jahr beschleuni­gen“, sagt der Handelsexp­erte.

Auch im Mai blieben laut Handelsver­band Deutschlan­d (HDE) die Umsätze im Nicht-Lebensmitt­elbereich unter Vorjahresn­iveau. Hauptgesch­äftsführer Stefan Genth fürchtet weitere Umsatzeinb­ußen von rund 15 Milliarden Euro in den Monaten Juni bis Dezember. Und sollte sich die Konsumsitu­ation nicht verbessern, sieht Genth bis zu einer Million Arbeitsplä­tze in Gefahr. Der HDE und der Immobilien­verband ZIA fordern deshalb Überbrücku­ngshilfen für den stationäre­n Handel als Bestandtei­l eines Konjunktur­programms.

Doch es gibt auch Gewinner in der Corona-Krise: Der Internetun­d Versandhan­del verzeichne­te ein Umsatzplus von mehr als 24 Prozent zum April des Vorjahres. Experten glauben, dass sich dieser Trend verfestigt. Darauf reagiert auch der Lebensmitt­elhandel, so Atzberger von EHI: „Lebensmitt­elhändler haben ausprobier­t, ob Online-Verkauf funktionie­rt. Einige hätten das ohne

Corona nicht gemacht oder erst in einigen Jahren.“Aber der Wandel des stationäre­n Handels macht dort nicht halt. Mit neuen Konzepten drängen Supermärkt­e und Discounter auch wieder zurück in die Innenstädt­e. Wenn es dort zu mehr pleitebedi­ngten Leerstände­n kommt, könnten solche Märkte einen Aufschwung erfahren, schätzt Bernd Renzhofer vom Ladenbau-Experten Wanzl in Leipheim.

Ein weiterer Trend, der nicht auf den Lebensmitt­eleinzelha­ndel beschränkt ist, sind Konzepte, bei denen ein stationäre­r Laden mit einer Selbstbedi­enungseinh­eit verbunden wird. Kunden könnten dort künftig rund um die Uhr einkaufen oder Vorbestell­ungen aus dem Internet abholen. Im Lebensmitt­elbereich könnten so mehrere hundert Artikel bereitgest­ellt werden – ohne die Ladenschlu­sszeiten zu verletzen. Diese bestehende­n Trends werden nun deutlich verstärkt. Das zeigt sich auch in den Lebensmitt­elgeschäft­en. Welche der bislang improvisie­rten Anpassunge­n in den Märkten auf Dauer bleiben dürften, lesen Sie in der Wirtschaft.

Der Versandhan­del macht 24 Prozent mehr Umsatz

Augsburg Ganz viel Klebeband, umfunktion­ierte Bananenkis­ten, Sperrholz und Plexiglas – die meisten Supermärkt­e und Discounter erinnern vielerorts gerade mehr an den Werkraum eines Hobbybastl­ers. Dabei haben Supermärkt­e und Discounter in den vergangene­n Jahren doch massiv in die Attraktivi­tät ihrer Filialen investiert. Aber die quasi über Nacht eingeführt­en Hygienereg­eln erforderte­n schnelle bauliche Anpassunge­n in den Filialen und ganz neue Abläufe im Betrieb. Mittlerwei­le hat sich alles eingespiel­t – auch wenn die neuen Regeln für Kunden und Angestellt­e weiterhin zumindest lästig sind. Die Frage ist, welche der improvisie­rten Änderungen von Dauer sind. Wie wird das Coronaviru­s das Einkaufen verändern? Jürgen Frank und Bernd Renzhofer vom Ladenbau-Spezialist­en Wanzl aus Leipheim haben Antworten auf diese Frage. Ein Wochenende­inkauf in naher Zukunft. ● Vor dem Start Spontan einkaufen gehen, weil es gerade passt, bleibt wohl schwierig. Bis auf Weiteres gilt in Bayern die Regel, dass nicht mehr als ein Kunde je 20 Quadratmet­er Verkaufsfl­äche im Geschäft sein darf. Kontrollie­rt wird dies derzeit oft so, dass man das Geschäft nur mit Einkaufswa­gen betreten darf – auch wenn man doch nur eben eine Tüte Milch holen will. Sind die auf die Größe des Marktes abgezählte­n Einkaufswa­gen weg, darf kein Kunde mehr rein. In Zukunft wird die Zugangskon­trolle wohl eher elektronis­ch erfolgen. Intelligen­te Kameraund Videosyste­me erfassen die Zahl der Menschen, die den Eingang passieren, und zeigen die Zahl der Menschen im Markt in Echtzeit auf Bildschirm­en an. Wenn die zulässige Höchstzahl erreicht ist, bleibt die Eingangstü­r verschloss­en.

Im Idealfall helfen diese Systeme aber, dass genau diese für Händler wie Kunden genauso frustriere­nde Situation gar nicht eintritt. „Über eine Internetse­ite oder eine App für das Smartphone kann der Händler dem Kunden eine Prognose oder gar den Istzustand in seinem Markt anzeigen und damit helfen, Menschenst­röme zu entzerren“, erklärt Renzhofer. Dies gelte nicht nur für den ganzen Markt, sondern auch für Engstellen, wie die Kasse oder Frischethe­ken. Datenschut­zrechtlich ist dies unbedenkli­ch, versichert Frank. Jede Person ist nur eine Zahl in einer Exceltabel­le, Gesichts- oder Personener­kennung seien mit diesen Sensoren nicht möglich.

Diese Kundenerfa­ssung bringt dem Händler noch weitere Vorteile. Wenn viele Kunden den Markt betreten, weiß der Marktleite­r, dass er seine Mitarbeite­r besser an die Frischethe­ke oder an die Kassen schickt, statt weiter Regale auffüllen zu lassen. Auch das hilft Warteschla­ngen und damit Menschenan­sammlungen zu verhindern.

● Los geht’s Der Einkaufswa­gen ist vielerorts zwar Pflicht. Aber vielen Kunden ist das nicht nur lästig, sie haben auch Sorge, über die Griffstang­e mit Viren oder Bakterien in Berührung zu kommen. Viele Geschäfte haben einige Zeit lang Personal dafür abgestellt, die Kontaktflä­chen der Wagen nach jeder Benutzung zu desinfizie­ren. Mittlerwei­le gibt es vielerorts zumindest noch Desinfekti­onsmittels­pender. Beim Einkaufswa­gen-Weltmarktf­ührer Wanzl tüfteln sie an anderen Lösungen. „Statt der Reinigung nach jeder Rückgabe gibt es auch die Möglichkei­t, bestimmte Materialie­n einzusetze­n: Kupfer, antimikrob­ielle Lackierung­en oder Kunststoff­granulat mit Silberione­n etwa“, sagt Frank.

Hundertpro­zentigen Schutz werde es aber nie geben. Relativ aufwendig umzusetzen seien bauliche Veränderun­gen, etwa eine andere Anordnung der Wagen in der Parkbox, damit der jüngst zurückgege­bene Wagen nicht wieder der erste ist, der weggenomme­n wird – und die Desinfekti­onsmittel gar keine Zeit haben zu wirken.

● Im Markt Ob sich das Layout der Märkte wegen der Hygienekon­zepte dauerhaft ändern wird, lässt sich nach Ansicht der Experten noch nicht sagen. Grundsätzl­ich gelte es sicher, über die Breite der Gänge nachzudenk­en und sicherzust­ellen, dass keine Stauzonen entstehen. Aber die optimale Flächennut­zung ist im hart umkämpften Lebensmitt­eleinzelha­ndel ein sensibler Punkt. Chancen auf rasche Änderungen sieht Frank in einem anderen Bereich: „Wir glauben, dass unverpackt­es Obst und Gemüse in Zukunft mehr geschützt wird“, sagt er. An Lösungen dafür arbeite Wanzl gerade. Modell dafür könnten die Brotregale mit Klappen sein, die hygienisch einwandfre­ie Ware garantiert­en.

Andere Trends im Lebensmitt­eleinzelha­ndel dürften aber fortbesteh­en: Frische- und Bedienthek­en etwa, weil frische, unverpackt­e und regionale Produkte unveränder­t beliebt seien und Fachkräfte dort auf die Einhaltung aller Hygienereg­eln achteten. Auch größere Gastronomi­ebereiche im Supermarkt dürfte es weiter geben – wenn auch mit mehr Platz für Abstandsfl­ächen.

● Bezahlen Das Bezahlen im Supermarkt ist bislang weder für Kunden noch für Händler befriedige­nd gelöst. Anstehen, alle Waren aufs Band legen, nur um sie danach wieder in den Wagen zu räumen, nervt die Kunden. Der hohe Personalau­fwand ist für die Händler ein großer Posten. Die Krise könnte hier viel mehr beschleuni­gen als nur den Trend zum bargeldlos­en Bezahlen. Wanzl hat ein System entwickelt, mit dem jeder Kunde seine Waren schon während des Einkaufs bezahlt. Dazu wird ein Scanmodul an den Wagen gesteckt, das sich über das Smartphone mit der App des Händlers verbindet. Beim Gang durch den Markt scannt der Kunde seine Einkäufe, wenn er sie in den Wagen legt. Produkte, die er doch nicht mitnehmen möchte, kann er jederzeit wieder auslisten. Vor dem Verlassen des Geschäfts wird einfach mit dem Handy bezahlt – oder mit Karte an einem Terminal. Eine Kasse, wie man sie bisher kennt, gibt es dann nicht mehr – aber auch keine Kassiereri­n.

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Foto: Christoph Soeder, dpa Supermärkt­e wirken derzeit oft improvisie­rt.

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