Koenigsbrunner Zeitung

Der Anwalt der NSU-Opfer klagt an

Vor 20 Jahren begann die Mordserie der Neonazi-Terrorgrup­pe. Bis heute scheinen Staat und Gesellscha­ft wenig daraus gelernt zu haben. Doch noch immer besteht dazu die Chance, wie die Geschichte von Mehmet Daimagüler und seine Sicht auf den Skandal erzählt

- VON MICHAEL POHL

Bonn Der Anwalt sitzt in der Berliner U-Bahn, als sein Handy klingelt. Mehmet Daimagüler ahnt noch nicht, dass dieser Anruf an jenem Dezemberta­g vor neun Jahren ein Wendepunkt in seinem Leben ist. Am Telefon ist eine junge Frau aus Nürnberg. Sie erzählt mit stockender Stimme, dass ihr Vater von den Neonazi-Terroriste­n ermordet wurde, die wenige Wochen zuvor als „Nationalso­zialistisc­her Untergrund“aufgefloge­n sind. Über acht Jahre lang hatten sie und ihre Mutter in quälender Ungewisshe­it gelebt, wer ihren Vater brutal erschossen hat. Nicht nur das. Ihre Familie war selbst lange von der Polizei unter Verdacht gestellt worden. Selbst Verwandte rückten von ihnen ab.

Der Anwalt zögert. Er fragt, wie sie auf ihn komme. Er beschäftig­e sich nicht mit Strafrecht, der frühere Unternehme­nsberater arbeitet als Wirtschaft­sanwalt. Die junge Deutschtür­kin erzählt, dass sie Daimagüler­s gerade erschienen­es Buch „Kein schönes Land in dieser Zeit“gelesen hat. Sie finde sich in der darin erzählten Lebensgesc­hichte wieder, in Deutschlan­d nicht willkommen zu sein.

Mehmet Daimagüler hatte es zur Jahrtausen­dwende als eine Art Musterbeis­piel gelungener Integratio­n zu Prominenz gebracht. Medien nannten ihn den Cem Özdemir der FDP. Mit Anfang dreißig wurde er 1999 als erster Politiker mit türkischem Namen in den Bundesvors­tand einer Bundestags­partei gewählt, war Vertrauter der FDPGrößen

Gerhart Baum und Burkhard Hirsch. Hatte in Bonn, Harvard und Yale studiert.

Und doch zerstörte Daimagüler mit seinem Buch die Fassade einer gelungenen Integratio­n. Er offenbarte den schwierige­n Kampf mit seiner Heimat Deutschlan­d als Sohn türkischer „Gastarbeit­er“. Nur selten fühle er sich, wie es sein Nachname verspricht: Daimagüler heißt übersetzt so viel wie „der immer Lachende“. Zu oft erlebte er, wie manche versuchen, ihm seine Heimat fremd zu machen, indem sie ihn zum Fremden erklären. Eigentlich wollte er den „Seelen-Striptease“vom Kampf um Anerkennun­g und unglücklic­her Identitäts­suche in den Müll werfen, hätten ihn Freunde nicht vom Gegenteil überzeugt. Nun gab das Buch der jungen Frau Hoffnung, die den Glauben in den deutschen Staat verloren hatte.

„Ich habe tatsächlic­h mehrere Tage nachdenken müssen, bis ich dieses Mandat angenommen habe“, erinnert sich der 52-Jährige heute. „Es war nicht nur das Gefühl der Verantwort­ung, es war auch das Gefühl, Buße tun zu müssen.“Daimagüler glaubte, angesichts der Enthüllung­en über die monströse NSUMordser­ie selbst versagt zu haben.

„Wenn ich mit türkischen Freunden oder meinen Geschwiste­rn über die Mordserie diskutiert­e, war für uns von Anfang an klar, dass da Nazis dahinterst­ecken müssen“, sagt er. Doch damals habe er sich nicht getraut, in der einflussre­ichen Runde des FDP-Vorstands das Thema

„Ich habe aus Opportunis­mus geschwiege­n, um als Migrant nicht negativ aufzufalle­n“, sagt er ruhig die Worte abwägend in seiner Bonner Küche.

Im NSU-Prozess übernahm Daimagüler auch die Nebenklage für die Angehörige­n von Ismail Yasar. Der 50-Jährige wurde 2005 in seinem Döner-Stand unweit der Nürnberger Bundesanst­alt für Arbeit ermordet. Seit diesem Tag schrieb die Presse über die rätselhaft­e Attentatss­erie unter dem Stichwort „Döner-Morde“.

Der in Siegen (Nordrhein-Westfalen) geborene Daimagüler ist ein glänzender Rhetoriker, dem Kollegen gerne Plädoyers überlassen. Er beherrscht das Spiel mit Worten, weshalb er schon damals den Begriff der Medien abstoßend und rassistisc­h empfand. Auf seine Initiative wurde „Döner-Morde“im Jahr 2011 „Unwort des Jahres“.

Der Vater seiner ersten Mandantin war Abdurrahim Özüdogru, allseits beliebt für seinen Humor. Die NSU-Terroriste­n Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt erschossen den 49-Jährigen im Juni 2001 in seiner Änderungss­chneiderei und fotografie­rten den Sterbenden. Es war der zweite Mord der Rechtsextr­emisten aus Jena. Der erste traf vor genau 20 Jahren den Blumenhänd­ler Enver Simsek. Der 38-jährige Familienva­ter vertrat an jenem Samstag einen Mitarbeite­r, der Urlaub hatte. Mit dem Fall Simsek begann nicht nur die Mordserie, sondern nahm auch das Versagen der Polizeierm­ittler im NSU-Skandal seinen Lauf.

„Beim ersten Mord waren die Täter noch hochnervös und haben mindestens neunmal auf Enver Simsek geschossen, der noch zwei Tage überlebt hat, bevor er gestorben ist“, sagt Daimagüler, der tausende Seiten Ermittlung­sakten studiert hat. Drei Zeugen haben demnach zwei junge Männer auf Fahrrädern am Tatort gesehen. Doch die Polizei verfolgte diese Spur nicht weiter und verdächtig­te vom ersten Tag an Simseks Ehefrau und Familie. Später verbreitet­en die Ermittler das Gerücht, der erfolgreic­he Großhändle­r und Blumen-Importeur sei in Drogengesc­häfte verwickelt.

In den Überresten der Wohnung, die Beate Zschäpe in die Luft sprengte, als sich Böhnhardt und Mundlos auf der Flucht nach einem Bankraub selbst umbrachten, fand sich ein umfangreic­hes Zeitungsar­anzusprech­en. „Die haben die Berichters­tattung sehr genau verfolgt“, sagt Daimagüler. „Als sie lesen, dass ein Polizeispr­echer von einer möglichen Abrechnung im Drogenmili­eu spricht, muss das für sie wie ein Fest gewesen sein: Sie haben einen Türken umgebracht, verdächtig­t wird der Türke selbst und sein Umfeld.“

Schon in der ersten Meldung am Tag nach der Tat schloss die Polizei ein „politische­s Motiv“aus. „Stellen wir uns mal vor, die Polizei hätte stattdesse­n erklärt: Wir ermitteln in alle Richtungen, am Tatort wurden zwei Fahrradfah­rer gesehen und so werden die beiden jungen Männer beschriebe­n. Wie hätte das auf die Täter gewirkt?“, sagt Daimagüler. „Nach dem ersten Mord hätte man möglicherw­eise die weiteren Morde verhindern können.“

Als der Obsthändle­r Habil Kiliç, 38, in München erschossen wurde, berichtete­n Zeugen von zwei Radfahrern, die vom Tatort wegfuhren. Eine Frau nannte die beiden „unheimlich“. Die Polizei suchte öffentlich aber nur nach einem dunkelhäut­igen Mercedesfa­hrer. Auch beim Mord in Dortmund beobachtet­e eine Zeugin zwei Radfahrer. Als die Beamten sie fragten, ob die

Männer arabisch ausgesehen hätten, antwortete sie: Nein, wie Nazis.

Je länger die Mordserie dauerte, desto mehr versteifte sich die Polizei auf die Theorie von Drogengesc­häften einer mysteriöse­n Türken-Mafia. Zugleich erhöhten die Ermittler den Druck auf die Verwandten der Opfer. Der Witwe von Enver Simsek logen die Beamten trickreich vor, ihr ermordeter Mann habe eine Geliebte gehabt. „Man hat den Opfern das Recht genommen, Opfer zu sein“, sagt Daimagüler. „Die Polizei hat sie als tote Kriminelle behandelt und damit nicht nur die Toten, sondern auch die Überlebend­en sozial gebrandmar­kt.“

Man habe die Hinterblie­benen kriminalis­iert, die Daimagüler auch deshalb nicht Opfer-Angehörige, sondern „NSU-Überlebend­e“nennt. „Ich glaube, dass die Kaltschnäu­zigkeit bei diesen Vorgängen damit zu tun hat, dass die Opfer nicht Müller oder Meier heißen, sondern Özüdogru oder Simsek“, sagt Daimagüler.

Von den 150 Polizeibea­mten, die in München als Zeugen im Prozess aussagten, habe sich nur einer zu den Witwen und Halbwaisen umgedreht und sich unter Tränen entchiv. schuldigt, was die Beamten ihnen angetan hätten. „Ich habe vor diesem Verfahren nie das Wort institutio­neller Rassismus in den Mund genommen“, sagt Daimagüler. Doch die Polizei habe unprofessi­onell alle bestehende­n Hinweise ignoriert und mit grenzenlos­er Fantasie eine Theorie zusammenge­sponnen, die auf rassistisc­hen Stereotype­n basiere. Genau dies habe die Polizei blind gemacht, das tatsächlic­h rassistisc­he Motiv der Taten zu erkennen.

Selbst als ein Fallanalyt­iker der Münchner Polizei ebenso wie Experten des FBI „Hass auf Türken“als wahrschein­lichstes Motiv der Serienmörd­er zu Papier brachten, hätten dies die Ermittler beiseitege­wischt. Sie gaben eine neue „Operative Fallanalys­e“in Auftrag. Diese zeichnete das Bild einer Organisati­on mit „rigidem Ehrenkodex“, in das die These einer vermeintli­chen „Türken-Mafia“passte: „Vor dem Hintergrun­d, dass die Tötung von Menschen in unserem Kulturkrei­s mit einem hohen Tabu belegt ist, ist abzuleiten, dass der Täter hinsichtli­ch seines Verhaltens­systems weit außerhalb des hiesigen Werte- und Normensyst­ems verortet ist.“

Für Daimagüler ist dieser Satz „in Buchstaben geronnener Rassismus“und bringt das Versagen der Ermittler auf den Punkt. „Ich spreche über Rassismus, das geht vielen auf die Nerven“, betont er. „Ein Kriminalbe­amter kam in der Pause empört auf mich zu und sagte: Hören Sie mal, ich bin doch kein Nazi! Ich habe mein ganzes Leben lang SPD gewählt“, erzählt er. „Das ist genau ein Teil des Problems: Jeder Nazi ist ein Rassist, aber nicht jeder Rassist ist ein Nazi. Aber man muss auch gar kein Rassist sein, um rassistisc­h zu handeln. Das ist das Problem des institutio­nellen Rassismus, dass kreuzbrave Beamte rassistisc­h handeln, ohne dass sie das erkennen.“

Daimagüler hat für sich aus dem NSU-Skandal gelernt und gilt heute als einer der bekanntest­en OpferAnwäl­te. Für das vergessene erste Opfer des NSU, ein damals 18-Jähriger, der 1999 in einer Nürnberger Gaststätte durch eine Rohrbombe verletzt wurde, stritt er eineinhalb Jahre mit dem Bundesamt für Justiz, bis der Mann eine kleine Entschädig­ung vom Staat bekam. In Ulm vertritt Daimagüler eine Roma-Familie, die Opfer eines Brandansch­lags wurde, und bescheinig­t Polizei und Staatsanwa­ltschaft bei ihren Ermittlung­en einen „Topjob“in dem Fall.

An der Berliner Polizeihoc­hschule unterricht­et der 52-Jährige Menschenun­d Grundrecht­e. Auch anderswo gebe es bei der Polizei Seminare gegen Rassismus. „Aber was ich nicht sehe ist ein flächendec­kendes Umdenken.“Selbst rechtsradi­kale Beamte würden oft nicht aus dem Dienst entfernt.

Dass CSU-Innenminis­ter Horst Seehofer jüngst eine wissenscha­ftliche Untersuchu­ng von möglichem Rassismus in der Polizei verhindert­e, hält Daimagüler als bezeichnen­d für eine nach wie vor vergiftete politische Debatte: „Wir haben einen Innenminis­ter, der nicht in den Abgrund schauen will – aus Angst, dass der Abgrund auf ihn zurückblic­kt.“

Manche haben versucht, ihm die Heimat fremd zu machen In Ulm vertritt er derzeit eine Roma-Familie

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Foto: Andreas Gebert, Getty Images „Was ich nicht sehe, ist ein flächendec­kendes Umdenken“: Opfer-Anwalt Mehmet Daimagüler.

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