Die „Hölle“von Moria liegt in Schutt und Asche
Ein Feuersturm fegt durch das Flüchtlingslager auf Lesbos. Vermutlich wurde es von Lagerbewohnern aus Angst vor Corona gelegt. Was wird nun aus den fast 13 000 Bewohnern des Camps? Und wie reagiert die Politik?
Athen/Brüssel Moria gibt es nicht mehr. Das größte und zugleich verwahrloseste Flüchtlingscamp Europas liegt in Schutt und Asche. Der Pressefotograf Giorgos Moutafis, der als einer der ersten Reporter am Mittwochmorgen das Camp erreichte, berichtete telefonisch im Sender Mega TV: „Alles ist vernichtet. Hier sieht es aus, als habe eine Bombe eingeschlagen.“Es war eine Zeitbombe, die seit langem tickte.
„Jetzt ist die Situation regelrecht explodiert“, sagt Stratos Kytelis, der Bürgermeister von Mytilini auf Lesbos. Moria liegt zwölf Kilometer von der Inselhauptstadt entfernt. Die „Hölle“nannten Bewohner das zeitweise fünffach überbelegte Camp. Mit dem Feuersturm, der in der Nacht zum Mittwoch das Lager verwüstete, bekommt dieses Wort eine neue, schreckliche Bedeutung.
Augenzeugen berichten, dass kurz vor Mitternacht im Umkreis des Lagers Flammen aufloderten. Es soll sich um etwa ein Dutzend kleiner Brandherde gehandelt haben. Nordwinde fachten die Flammen an. Schnell griffen sie auf Zelte und Wohncontainer über. Die Lagerbewohner, darunter viele Familien mit Kindern, flohen vor den Flammen in die umliegenden Wälder und Hügel. Die Feuerwehr setzte zehn Löschfahrzeuge und einen Löschhubschrauber ein. Erst am Morgen gelang es ihr, den Brand zu löschen. Ob Menschen verletzt oder getötet wurden, war zunächst noch unklar.
Alles deutet auf Brandstiftung Anders ist wohl nicht zu erklären, dass an so vielen Stellen gleichzeitig Feuer ausbrach. Wer dahinter steckt, ist noch unklar. Der griechische Regierungssprecher Stelios Petsas sagte, Lagerbewohner selbst hätten die Brände gelegt. Schon bei früheren Protesten hatten Migranten Wohncontainer in Brand gesteckt. Für diese Version spricht, dass die Feuerwehrleute von Migranten mit Steinwürfen behindert wurden. Manche riefen triumphierend „Bye, bye Moria!“.
Dem Brand waren Unruhen im Lager vorausgegangen. Auslöser war die Corona-Epidemie. Vor einer Woche wurde erstmals ein Bewohner positiv auf das Virus getestet. Die Regierung verhängte eine Quarantäne und begann mit Tests. Am Dienstag wurde bekannt, dass sich weitere 35 Migranten infiziert hatten. Sie, ihre Familien und Kontaktpersonen sollten in eine Isolierstation außerhalb gebracht werden. Dagegen regte sich Widerstand. Derweil versuchten andere Bewohner, aus Angst vor Ansteckung das Camp zu verlassen. Es kam zu Streitigkeiten, die offenbar später zu den Brandstiftungen führten.
Der Brand auf Lesbos hat zu teils heftigen Reaktionen in ganz Europa geführt – zum Teil mit deutlichen Schuldzuweisungen. Die Flüchtlingsorganisation Pro Asyl machte die Bundesregierung und die EU für die Katastrophe in Moria verantSie sei „eine Folge der skandalösen und menschenverachtenden deutschen und europäischen Politik“, so Pro Asyl-Geschäftsführer Günter Burkhardt. In den Lagern seien tausende Menschen „psychisch zermürbt“worden. Anstatt für faire Asylverfahren zu sorgen, hätten alle EU-Staaten zugeschaut. Bundesentwicklungsminister Gerd Müller (CSU) sieht die Versäumnisse bei der EU. Die „menschenverachtenden Zustände“seien seit Jahren bekannt gewesen, trotz der Sorge vor Corona-Ansteckungen sei nichts passiert. „Dies muss auch der letzte Weckruf an die EU sein, sich jetzt nach fünf Jahren Diskussion auf die Grundsätze einer humanitären europäischen Flüchtlingspolitik zu einigen.“
Das Camp war im Rahmen des EU-Flüchtlingspakts mit der Türkei 2016 gebaut worden. Seinen Namen hat es vom Dorf Moria. Lesbos ist ein Hauptziel der Migranten, weil es nur etwa 15 Kilometer von der türkischen Küste entfernt ist und zum EU-Staat Griechenland gehört. Moria war konzipiert als eines von fünf Erstaufnahmelagern. Weitere gibt es auf Chios, Leros, Kos und Samos. In diesen „Hotspots“werden ankommende Geflüchtete registriert, dort warten sie auf ihre Asylbescheide. Abgelehnte Bewerber sollten in die Türkei zurückgeschickt werden. Doch das System funktionierte nicht. Vielmehr entstand jener Teufelskreis, der Moria zum Inbegriff der Hölle machte. Es kamen immer mehr Menschen an, ohne dass andere gleichzeitig weiter reisen konnten: Die Behörden wurhin. den vom Ansturm überfordert. Die Asylverfahren zogen sich in die Länge, auch wegen vieler Einsprüche. Moria hat Unterkünfte für 2757 Personen, zeitweilig lebten dort über 15 000 Menschen. Aktuell sind es nach offiziellen Angaben 12589, darunter 4000 Kinder. Die Zustände waren katastrophal. Menschenrechtsorganisationen nannten Moria „die Schande Europas“. Pläne der Regierung zum Bau weiterer Lager stießen auf Widerstand der Inselbevölkerung. Seit Jahren fordert die griechische Regierung eine gerechtere Umverteilung der Migranten in der EU. Dazu müsste die EU ihre
Asylpolitik ändern. Diese Reformpläne kommen aber nicht voran. Einige osteuropäische Länder wollen gar keine Migranten aufnehmen. Tatsächlich werden Italien, Spanien und Griechenland allein gelassen.
Die griechische Regierung hat umgehend den Notstand über Lesbos verhängt. Mit einem Transportflugzeug der Luftstreitkräfte wurden zusätzliche Polizeikräfte auf die Insel geflogen. Sie sollen die Lagerbewohner davon abhalten, nach Mytilini zu marschieren. Dort fürchten die Griechen, dass die Migranten in der Stadt campieren – und das Coronavirus verbreiten. Nach einer Krisensitzung des Kabinetts in Athen erklärte Ministerpräsident Kyriakos Mitsotakis: „In Moria kann es nicht so weitergehen wie bisher. Das ist eine Frage der öffentwortlich. lichen Gesundheit, der Humanität und der nationalen Sicherheit.“
Wie aber soll es weitergehen? Migrationsminister Notis Mitarakis sagte am Abend, die obdachlosen Lagerbewohner sollen zunächst auf Schiffen und in Zelten unterkommen. Der Minister war auf die Insel gereist, um sich ein Bild von der Lage zu machen. Die UN-Flüchtlingsagentur UNHCR teilte in Genf mit, eine vorübergehende Lösung sei in Arbeit. Noch ist es warm und sonnig auf Lesbos. Aber der Winter naht.
Als eine der ersten hat EU-Innenkommissarin Ylva Johansson mit einer ersten Hilfsmaßnahme reagiert. Nach Absprache mit der griechischen Regierung kündigte sie an, den „unverzüglichen Transfer und die Unterbringung der verbleibenden 400 unbegleiteten Kinder und Jugendlichen aufs Festland“zu finanzieren. „Die Sicherheit und der Schutz aller Menschen hat Priorität“, ergänzte sie.
Die resolute Kommissarin aus Schweden weiß aber auch, dass eine Verlegung zwar den Kindern hilft, das Problem aber nicht löst. Selbst wer Asyl erhält, weiß nicht, wie es weitergeht, wohin er gehen soll.
Die Bundesregierung hat Griechenland Hilfe zur Bewältigung der aktuellen Notsituation angeboten. Konkrete Maßnahmen nannte ein Sprecher des Innenministeriums am Mittwoch nicht. SPD-Vorsitzende Saskia Esken forderte die Bundesregierung auf, den Weg für eine Aufnahme von Geflüchteten aus Moria in deutschen Kommunen frei zu machen.
Noch ist es warm und sonnig, aber der Winter kommt