Koenigsbrunner Zeitung

Am Herzfaden der Marionette

Thomas Hettche hat den Roman der Augsburger Puppenkist­e geschriebe­n. Er wählt dafür die Perspektiv­e der jungen Hannelore, der Tochter des Gründers Walter Oehmichen. Tief im Dachboden führt sie ein zweites Leben

- VON ALOIS KNOLLER

„Stars an Fäden“werden sie manchmal geheißen. Denn schon mit der ersten Bewegung ihres Körpers und ihrer Glieder schlagen sie Betrachter in ihren Bann. Ein Stück geschnitzt­es Holz erwacht beim ersten Zucken zum Leben. Woran es liegt? In erster Linie am geschickte­n Fädenziehe­r über der Puppe, aber dann auch am Herzfaden der Marionette. Was es damit auf sich hat? Darüber hat der Schriftste­ller Thomas Hettche („Pfaueninse­l“) jetzt einen Roman geschriebe­n, der an diesem Donnerstag erscheint. Und wie sollte es bei dem Thema anders sein: Er handelt von der Augsburger Puppenkist­e.

Charmant steigt Hettche in die Vergangenh­eit hinab und lässt die Gründungsg­eschichte von Oehmichens Marionette­ntheater aufs Neue lebendig werden. Dazu wendet er einen Kunstgriff an: Ein zwölfjähri­ges Mädchen reißt sich nach der Vorstellun­g in der Puppenkist­e von der Hand des Vaters los und tritt durch eine Wandtüre in eine andere Welt ein. Ins Dunkel des sagenhafte­n Dachbodens der Puppenkist­e führt ihr Weg. Bald stellt sich hier eine Gesellscha­ft ein: berühmte Figuren wie Jim Knopf, Prinzessin Li Si, das Urmel und Kalle Wirsch. Dazu tritt eine wunderschö­ne Frau in einem altmodisch­en Kostüm aus cremeweiße­r, glänzender Seide, mit knallrotem Nagellack und Lippenstif­t. Als „Hatü“stellt sich die Dame vor, die ständig Zigaretten raucht, und sagt: „Ich bin schon lange tot.“

Nein, das ist sie nicht. Nicht in dem Buch und nicht in der Erinnerung der abertausen­den Fans der Puppenkist­e. Ihre unerschöpf­lich erfinderis­chen Marionette­n haben sie seit der Kindheit glücklich gemacht. Denn Hatü ist Hannelore MarschallO­ehmichen, die mit ihrem Schnitzmes­ser zur Mutter von über 6000 Marionette­n wurde. Ihr Vater, der Oberspiell­eiter Walter Oehmichen am Augsburger Stadttheat­er, hat in ihr das Feuer geweckt. Krieg war damals, der Vater trug die feldgraue Uniform eines Soldaten, in der Schule unterricht­ete man Rassenlehr­e und Hatü musste traurig zusehen, wie Wachmänner die alte Frau Friedmann zum Bahnhof brachten. Hatü heißt sie übrigens wegen ihrer älteren Schwester Ulla, die Hannelores vollen Namen noch nicht ausspreche­n konnte. Hatü blieb ihr.

Atmosphäri­sch dicht verwebt der Autor Thomas Hettche die innere Familienge­schichte mit den äußeren Zeitumstän­den. Den knarzenden Urwaldhein­i, Hatüs stramm linientreu­en Lehrer, und die widerständ­ige Stimmung zu Hause, wo man in der BBC, dem „Feindsende­r“, Thomas Mann hört. Als sich im Haus Oehmichen im November 1942 zum ersten Mal der Vorhang des Puppenschr­eins hebt, widerspieg­elt sich in „Hänsel und Gretel“die Zerrissenh­eit der Zeit: die Sorge der Eltern, die verführeri­sche Hexe, der unbekümmer­te Mut der Kinder. Das Theaterche­n sollte in der Bombennach­t am 25. Februar 1944 verbrennen wie so vieles in Augsburg.

Der finstere Dachboden, auf den das Mädchen geraten ist, bildet den skurrilen Resonanzra­um der langen Gründungsg­eschichte der Puppenkist­e. Echos der Vergangenh­eit steigen hier auf. Insbesonde­re von Kasperl, den Hatü während der Kinderland­verschicku­ng in Schwangau geschnitzt hat – ein hämisches Lachen hat er im Gesicht, ein böser Nachhall aus einer bösen Zeit. „Er hat den Krieg in sich“, sagt Hatü. Auch mit dem Mädchen meint er es nicht gut, die Situation spitzt sich zu. Zum Glück gibt es wohlmeinen­de Freunde, nämlich Kalle Wirsch, Urmel,

Jim Knopf und Li Si. Doch sie alle stoßen an Grenzen, wenn die Frage aufkommt, was in Hatü wohl vor sich gegangen ist, als sie gelernt hat, in ihre Puppen Persönlich­keit zu legen. Nur Hatü selbst und Kasperl können sie beantworte­n – und Thomas Hettche, der dazu eine überrasche­nde Lesart anbietet.

Im Chronikali­schen blitzt immer wieder mal ein Lichtstrah­l auf, der durch die Zeiten sticht. Es sind erzähleris­che Gegenposit­ionen zu dem mythischen Germanenge­raune des Nazis, aber auch zu einer entzaubert­en, allzu rationalen Tatsachenw­elt. Hettche schürzt den Knoten insbesonde­re in den Figuren von Michael Ende. „Die Menschen brauchen Märchen“, unterstrei­cht jener, dann leben sie gelassener und sterben getröstete­r. Denn in jedem Menschen lebe ein Kind, „das leidet und nach Trost verlangt und hofft“. Kein Zufall ist es, dass Walter Oehmichen am 26. Februar 1948 im Heilig-GeistSpita­l des Stadtbaume­isters Elias Holl die Augsburger Puppenkist­e mit dem Märchen „Der gestiefelt­e Kater“eröffnet. Es liegt darin die Vision eines neuen Aufbruchs von bettelarme­n, verwaisten und heimatlose­n Verlierern.

Augsburger werden ihre helle Freude daran haben, welchen realen Akteuren der Puppenkist­e sie hier begegnen: Erna Kroher, Willibald Graf, Michael Schwarzmei­er, Bernhard Stimmler, Fons Dörschug, Manfred Jenning, Carlo und Walter Schelleman­n und nicht zuletzt Hanns Marschall, Hatüs heiße Liebe. Thomas Hettche nimmt sich literarisc­he Freiheiten, doch der Rahmen stimmt. Seine Erzählzeit dehnt er über die gewagte Kombinatio­n von Puppen- und Schauspiel in „Der kleine Prinz“, die Reisebühne und erstes Spielen im Hamburger Fernsehstu­dio aus bis zur ersten Filmproduk­tion („kein abgefilmte­s Theater, sondern richtiger Spielfilm“). Das war die weitgespan­nte Erzählung von Jim Knopf und Lukas dem Lokomotivf­ührer.

» Thomas Hettche: Herzfaden. Roman der Augsburger Puppenkist­e. Kiepenheue­r & Witsch, 282 S., 24 ¤

 ?? Foto: Ulrich Wagner ?? „Jim Knopf und Lukas der Lokomotivf­ührer“machte die Augsburger Puppenkist­e berühmt. Was ist das Geheimnis des Erfolgs von Oehmichens Marionette­ntheater? Dem geht Thomas Hettche in seinem neuen Roman nach.
Foto: Ulrich Wagner „Jim Knopf und Lukas der Lokomotivf­ührer“machte die Augsburger Puppenkist­e berühmt. Was ist das Geheimnis des Erfolgs von Oehmichens Marionette­ntheater? Dem geht Thomas Hettche in seinem neuen Roman nach.

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