Koenigsbrunner Zeitung

Alles mit der Ruhe

Alexander Zverev ist der erste deutsche Halbfinali­st in New York seit Boris Becker 1995. Der 23-Jährige spielt mit einer neuen inneren Balance, die ihm große Chancen aufs Finale eröffnet

- VON JÖRG ALLMEROTH

New York Es ist eine kalte Grand Slam-Welt, in der sich der große Wanderzirk­us des Tennis gerade in New York wiederfind­et. Aber ausgerechn­et in diesem komplett anderen Universum, in der Stille, in der Einsamkeit, in der nüchternen Geschäftsm­äßigkeit der US Open 2020, hat Alexander Zverev eine neue innere Balance entdeckt – ein mentales Gleichgewi­cht, das ihn nun auch bis ins erste Halbfinale seiner Karriere im Big Apple getragen hat.

„Irgendwie prallt alles an mir ab“, sagt der 23-jährige Hamburger, dessen letzter Sieg, das 1:6, 7:6 (7:5), 7:6 (7:1), 6:3 im Viertelfin­ale gegen den Kroaten Borna Coric, symptomati­sch war für die Ausgeglich­enheit in schwierige­n Zeiten. Zverev steckte sogar einen 1:6, 2:4-Rückstand wie ein geborener Stoiker weg und drehte die verloren geglaubte Partie im Arthur Ashe Stadion noch um. Jetzt trifft er in der Runde der letzten Vier auf Überraschu­ngsmann Pablo Carreno-Busta, der am Sonntag im Achtelfina­le vom Disqualifi­kationsska­ndal um Novak Djokovic profitiert und danach den jungen Kanadier Denis Shapovalov in fünf umkämpften Sätzen geschlagen hatte. „Hungrig sind alle auf diesen Sieg“, sagt Zverev, der erste deutsche Halbfinali­st seit Boris Becker 1995, „das Schwerste kommt erst noch.“

Seltsame Grand Slam-Momente sind es, die man gerade im Billie Jean King Tennis Center erlebt. Es fehlen die großen Emotionen, die aufwühlend­en Centre Court-Szenen, die wilden Gefühlsaus­brüche der speziellen New Yorker Fans. In diesen US Open spielt sich keiner der Stars und Superstars in einen Rausch, es gilt vielmehr, diese besondere Atmosphäre, die Sterilität des ganzen Schauplatz­es zu meistern. Und ausgerechn­et dem bisher eher komplizier­ten Zverev gelingt es erstaunlic­h gut, sich in der fremdartig­en Umwelt selbst zu kontrollie­ren, trotz aller Probleme sehr abgeklärt das richtige Maß und die Mitte finden. Zverev wirkt wie einer, der sich nach der langen Zwangspaus­e und einem massiven Trainingsp­ensum fest vertraut und beinahe in sich ruht. Der selbst dann nicht ernsthaft zweifelt, wenn es einmal brenzlig wird für ihn. „Ich bin ziemlich gelassen. Ich weiß, dass ich ein gutes Fundament habe“, sagt er.

Der Deutsche kommt wie ein Grand Slam-Angestellt­er alle paar Tage an seinen Arbeitspla­tz und erledigt den Job. Es gibt kein Jammern und Klagen, es gibt keine zerbrochen­en Schläger, es gibt keine Verzweiflu­ng, aber auch keine Euphorie. „Am meisten imponiert mir, wie Sascha stets die Kontrolle behält. Die Kontrolle über sich sagt Becker, der deutsche Herrentenn­is-Boß. Am Dienstagab­end war Becker zwischendr­in „sprachlos“, weil Zverev einen ziemlichen Rumpelstar­t mit Achund-Krach-Tennis hingelegt hatte. Später aber zog er den Hut vor seinem Schützling: „Du gewinnst solche Turniere nicht mit Schönheits­preisen. Sondern mit Spielen wie diesem hier.“

Zverevs Tennisjahr 2020 bot einerseits große Momente, nach den Australian Open zu Saisonbegi­nn ist er nun in New York schon wieder im Elitegrüpp­chen der letzten Vier dabei. Anderersei­ts gehörte er auch zu denjenigen, die in der CoronaKris­e für manch rabenschwa­rze Schlagzeil­e sorgten, als leichtsinn­izu ger Mitwirkend­er bei der AdriaTour. Und mit dem gebrochene­n Quarantäne­verspreche­n danach, in der Wahlheimat Monte Carlo. Irgendwann in den Irrungen und Wirrungen verschwand Zverev allerdings von der Bildfläche und machte fortan vor allem eins: sich an die Spielregel­n zu halten, sich einfach einzuordne­n in das Grüppchen der vernünftig­en Kollegen. Die Pointe der ganzen Geschichte: Zverev, der Gast von Djokovics umstritten­er Schaukampf­serie, könnte jetzt vom Absturz des Nummer-eins-Mannes profitiere­n. Ihm, dem 17-maligen Grand Slam-Champion, hätte er im Normalfall am Freitag gegenüber gestanden. Doch jetzt wird Zverev auf Carreno-Busta blicken, den spaselbst“, nischen Veteranen, der ihm als letzter Rivale den Sprung ins Finale verwehren kann. „Es ist natürlich eine riesige Chance“, sagt Zverev, „und ich will sie nutzen. Unbedingt.“Zverev gehörte in den ersten Jahren seiner noch immer jungen Karriere zu den Stimmungss­pielern der Branche. Die Konsequenz war naheliegen­d: Spielte er gut, dann gewann er meistens auch. Spielte er schlecht, verlor er immer, gefühlt zu 100 Prozent. Es hatte dann auch immer mit seinen Emotionen zu tun, seiner schwierige­n Psyche, seinem Jähzorn, seinem Anspruchsd­enken. In vielen Spielen machte er so das Mögliche unmöglich, nicht etwa umgekehrt. Zverev ging alles nicht schnell genug voran, es konnte ihm unschwer verborgen bleiben, wie alle Welt von seinem gewaltigen Potenzial sprach. Und wie er, in seiner eigenen Wahrnehmun­g, eher den Erwartunge­n hinterherh­inkte. „Ich glaube, mir hat in den letzten Jahren manchmal die Geduld gefehlt. Dabei ist das alles eher ein Marathon und kein Sprint.“

Den großen Zielen ist er nun doch näher und näher gekommen. Noch fehlt der magische Durchbruch, der erste Major-Titel. Aber zuletzt hat ein ziemlich kluger Schachzug imponiert. Und die Hoffnung befördert, dass Zverev die deutsche Grand Slam-Dürre schon bald beenden kann. In der Corona-Pause engagierte der 23-jährige den früheren spanischen Weltklasse­mann und Top Ten-Spieler David Ferrer als neuen Coach. Ein ungleiches Pärchen, auf den ersten Blick. Aber Ferrer steht für genau jene Qualitäten, die Zverev bisher fehlten. Die bedingungs­lose Immer-WeiterMent­alität, die Unverdross­enheit in allen Tennis-Lebenslage­n, die Attitüde, niemals, absolut niemals in irgendeine­m Match aufzugeben. Ferrer ist nicht dabei in New York, Zverev ist quasi als Alleinkämp­fer unterwegs, auch wenn er täglich lange mit dem Matador vergangene­r Tage telefonier­t. Ein Stück seines neuen Trainers steckt plötzlich auch schon im neuen Zverev.

 ?? Foto: dpa ?? Die Zverev-Faust war nur selten zu sehen: Meist schlug sich der 23-Jährige im Stile eines Stoikers durch das Match gegen den Kroaten Borna Coric zum 1:6, 7:6, 7:6, 6:3-Sieg.
Foto: dpa Die Zverev-Faust war nur selten zu sehen: Meist schlug sich der 23-Jährige im Stile eines Stoikers durch das Match gegen den Kroaten Borna Coric zum 1:6, 7:6, 7:6, 6:3-Sieg.

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