Wann, wenn nicht jetzt?
Der Brand in Moria schockiert, ganz gleich, wie es dazu kam. Es zeigt sich, wie sehr Europa eine Linie in der Flüchtlingspolitik fehlt. Das muss sich endlich ändern
Flüchtlingspolitik ist immer auch eine Politik der Bilder. Zum fünften Jahrestag des Satzes „Wir schaffen das“waren viele dieser ikonischen Bilder wieder zu sehen: das Selfie von Bundeskanzlerin Angela Merkel mit einem lachenden Neuankömmling, die Aufnahme von einem toten Flüchtlingsjungen an einem Strand in der Türkei. Nun sehen wir die Bilder aus Moria und spüren: Auch diese könnten sich kollektiv einbrennen.
Sie sind in jedem Fall eine Erinnerung daran, was eben nicht geschafft worden ist im Umgang mit Flüchtlingen. Eine der wirtschaftlich stärksten und menschlichen Werten am meisten verpflichteten Regionen unseres Planeten – die Europäische Union – hat noch immer keine wirtschaftlich machbare und menschlichen Werten verpflichtete Lösung gefunden: für Menschen, die nach Europa wollen, aber nicht alle nach Europa können.
Schon wie die Bilder von Moria zustande kamen, zeigt das ganze Dilemma. Es mehren sich die Anzeichen, dass Bewohner des Camps selber das Feuer gelegt haben und damit natürlich auch das Leben ihrer Mitbewohner gefährdeten. Man könnte sich darüber erregen, von Erpressung und Rücksichtslosigkeit sprechen, aber das wirkt fast zynisch angesichts der schrecklichen Verhältnisse in Moria – und deren langer Vorgeschichte.
Denn geht es um Flüchtlinge, ist sich in Europa seit Jahren jedes Land das nächste. Das gilt keineswegs nur für jene, die nun kategorisch fast jede Aufnahme ablehnen, wie die Ungarn, die Polen, Slowaken oder Tschechen. Auch Deutschland gehört dazu, aller „Willkommenskultur“zum Trotz. In den Jahren vor der Flüchtlingskrise hat man in Berlin stillschweigend hingenommen, dass Flüchtlinge vor allem ein Problem jener Länder waren, die das Pech haben, an Europas Außengrenzen zu liegen. Als sehr viele Geflohene nach
Deutschland kamen, erkaltete unsere Willkommenskultur rasch. Man war bald bereit, einen fragwürdigen Deal mit Erdogans Türkei zu schließen, um die Flüchtlinge wieder ferner zu halten – wohl wissend, dass die von diesem Deal direkt betroffenen Griechen mit den Folgen überfordert sein würden.
Für die gerade laufende deutsche EU-Ratspräsidentschaft wurde oft genug der Versuch einer europäischen Lösung avisiert. Ende September will die Europäische Kommission einen Entwurf vorstellen. Doch dann ist die deutsche Präsidentschaft schon fast wieder vorbei. Bundesinnenminister Horst Seehofer hat zwar versprochen, notfalls jeden Mitgliedstaat zu bereisen, um diese Lösung doch noch zu erreichen. Aber der Kommissionsvorschlag wird wohl wenig ambitioniert ausfallen. Es dürfte ein besserer Schutz von Europas Außengrenzen darin stehen, was im Prinzip jeder unterstützt. Wie diese aber durch wen abgesichert werden sollen, bleibt strittig – genau wie die Frage, wer wie viele Flüchtlinge aufnehmen müsste, und ob manche Länder sich (Stichwort Zynismus) davon freikaufen könnten.
Nun heißt es, als Erfolg der deutschen Ratspräsidentschaft reiche es schon, wenn Corona-Hilfspakete und Haushaltsplanungen realisiert würden. Mehr sei gerade nicht zu erwarten, für eine europäische Flüchtlingslösung bleibe einfach keine Zeit.
Nur: Zeit dafür war lange vor Corona. Und wahr ist auch: Die Pandemie-Auswirkungen werden (hoffentlich) temporär bleiben. Gelingt Europa keine Verständigung in der Migrationsfrage, wird diese niemals wirklich zu schaffen sein.
Manchmal gehört zur richtigen Politik auch der richtige Moment – die Griechen verehrten Kairos, den Gott der günstigen Gelegenheit. So traurig die Bilder von Moria sind: Vielleicht schaffen sie so einen Moment, so eine Gelegenheit.
Es kommt auch auf den richtigen Moment an