Herzbube
Daniel lebt seit 656 Tagen im Krankenhaus. Er wartet auf ein Spenderherz. Wie es dem Kind geht und wie die Corona-Pandemie die ohnehin schwierige Situation nun verändert
Augsburg 656. Diese drei Ziffern, die eigentlich völlig unscheinbar daherkommen, erzählen eine traurige Geschichte. Es ist die Geschichte von Daniel, einem kleinen Jungen aus Schwabmünchen im Landkreis Augsburg, der dringend ein Spenderherz braucht. Auf dem Spielplatz toben, mit anderen Kindern Verstecken spielen, Sandburgen am Baggersee bauen – Daniel kennt so etwas nicht. Sein Zuhause ist ein Zimmer in der Uniklinik im Münchner Stadtteil Großhadern – und das seit eben genau 656 Tagen. Und als wäre das alles nicht schon schlimm genug, macht die Corona-Pandemie das Leben des kleinen Buben und seiner Eltern noch komplizierter.
Wenn man mit Diana Dietrich, Daniels Mutter, spricht, dann spürt man, wie viel Kraft sie aufbringen muss. Jeden Tag. Dass ihr Kind so lange im Krankenhaus sein würde, damit hatte sie nicht gerechnet. Im Schnitt bekämen Patienten innerhalb von zwölf bis 18 Monaten ein Spenderherz, hatten ihr die Ärzte damals gesagt.
Damals, das ist der 23. Oktober 2018. Die Schwabmünchnerin ist mit ihrem Sohn, der da gerade einmal zehn Monate alt ist, im Krankenhaus. Er hatte in den vergangenen Wochen oft gehustet, an etwas Schlimmes hatte aber niemand gedacht. Doch die Nachricht, die Diana Dietrich an jenem Tag erhält, wirft ihr Leben von einem Moment auf den anderen aus der Bahn. An diesem kühlen Herbsttag erfährt sie, dass Daniel an dilatativer Kardiomyopathie leidet. Eine extrem seltene Krankheit, bei der eine Herzkammer massiv vergrößert ist. Daniel braucht dringend ein Spenderorgan. Sonst stirbt er.
„Im Moment geht es ihm den Umständen entsprechend“, sagt Diana Dietrich im Gespräch mit unserer Redaktion am Telefon. Die Kanülen würden oft bluten, Daniel habe wegen der ständigen Reibung Schmerzen. Jeden Tag gebe es deswegen einen aufwendigen Verbandswechsel. „Aber er ist trotzdem eine Frohnatur“, sagt Daniels Mama, hält kurz inne und fügt dann hinzu: „Aber er kennt es ja nicht anders.“Was ihm aber wirklich fehle, sei der Kontakt zu anderen Kindern. Auch für seine Entwicklung. Im Dezember wird Daniel drei Jahre alt, Gleichaltrige sprechen da längst, Daniel aber noch nicht.
Und jetzt also noch die CoronaKrise. Daniel dürfe sich natürlich keinesfalls mit dem Virus infizieren,
seine Mutter. Alle seien deswegen enorm vorsichtig, ins Krankenhaus dürfe nur maximal ein Besucher. Früher, bevor die Pandemie alles verändert hat, konnte Diana Dietrich auch mal Freunde einladen. Die junge Mutter wohnt im Ronald-McDonald-Haus gleich neben der Klinik, in dem mehrere Eltern schwer kranker Kinder leben. Der Kontakt mit anderen fehle ihr – allerdings sei sie ohnehin am Abend oft am Ende ihrer Kräfte, falle nur noch völlig erschöpft ins Bett. Daniels Vater wohnt ebenfalls in der Wohnung neben der Klinik. Jeden Morgen fährt er von dort zur Arbeit und kommt am Abend zurück. In ihrem eigentlichen Zuhause in Schwabmünchen schauen sie nur noch einmal im Monat vorbei.
Wenn es das Wetter zulässt, geht Diana Dietrich mit ihrem Sohn ins Freie – das ist auch jetzt während der Corona-Pandemie möglich. Das Klinikgelände verlassen sie allerdings nicht. „Wir gehen immer auf der gleichen Straße spazieren“, erzählt Daniels Mutter. Ein kleines bisschen mehr Freiheit gibt es nun aber: Daniel hat ein neues Herzunterstützungssystem bekommen, dessen Akku sieben Stunden hält. „Als drittes Kind weltweit darf Dasagt niel diese Maschine testen“, erzählt Diana Dietrich.
Tausende Menschen verfolgen im Internet das Schicksal des kleinen Jungen. „Herzbube Daniel“heißt der Blog von Diana Dietrich. Immer wieder postet sie auf Facebook oder Instagram auch Geschichten von Kindern, die mit Daniel im Krankenhaus waren – und die endlich ein Herz bekommen haben. „Für mich ist das immer ein Hoffnungsschimmer, wenn ich sehe, dass es bei anderen klappt. Ich habe da nicht den Gedanken, dass sie uns etwas wegnehmen“, sagt Diana Dietrich, macht eine kurze Pause und sagt: „Aber es tut schon auch weh.“
Dass der erlösende Anruf kommt, darauf hofft Daniels Mutter jeden Tag. Doch die ganze Sache sei wie ein Sechser im Lotto, sagt sie. Und sie weiß auch: Während für sie und ihren Sohn ein neues Herz ein riesengroßes Glück wäre, erlebten andere Eltern die schlimmste Tragödie, die man sich vorstellen kann. Denn ein Spenderherz gibt es eben nur, wenn ein anderes Kind stirbt.
Die Eltern eines gestorbenen Kindes müssen sich dann überhaupt erst bereit erklären, das Herz zu spenden. Und es gibt noch mehr Hürden: Das Herz muss natürlich zu Daniel passen, und das Organ dürfe auch nicht zu weit weg sein.
In Deutschland warten sehr viele Patienten auf ein neues Herz – mehr als 700 Menschen geht es wie dem kleinen Daniel. Und das ganz große Problem dabei ist: Es gibt einfach nicht genügend Organe. Und so warten viele Patienten lange. Sehr lange. Oft vergebens.
Im Januar hat der Bundestag gegen die von Gesundheitsminister Jens Spahn vorgeschlagene Widerspruchslösung gestimmt. Das Modell hätte vorgesehen, dass jeder Erwachsene grundsätzlich Organspender sein soll – es sei denn, er widerspricht ausdrücklich. „Ich fand die Entscheidung sehr enttäuschend und unverständlich“, sagt Diana Dietrich. Und sie habe das Gefühl, dass sich viele Politiker gar nicht ausreichend mit dem Thema beschäftigt hätten. „Ich habe so viele Politiker angeschrieben, mit uns zu sprechen, mehr über Daniel und sein Schicksal zu erfahren. Aber nur zwei sind gekommen.“
Wie es nun weitergeht? Diana Dietrich weiß es nicht. Und auch die Ärzte könnten keine Voraussagen treffen. Alles, was sie tun könne, sei hoffen. Auf diesen einen Anruf. Auf ein neues Herz für ihren Sohn. Denn das ist das Einzige, was dem Buben helfen kann.