Wie CoronaDemonstranten NaziOpfer verhöhnen
Eine junge Frau erklärt, sie fühle sich wie die Widerstandskämpferin Sophie Scholl, andere tragen gelbe Sterne mit der Aufschrift „Ungeimpft“. Für den Historiker Andreas Wirsching sind das ganz bewusste, unfassbare Provokationen
Augsburg „Es lebe die Freiheit“– diese Worte schleuderte Hans Scholl am 22. Februar 1943 seinen Mördern stolz und trotzig entgegen. An diesem Tag wurde er zusammen mit seiner Schwester Sophie und dem Mitstreiter Christoph Probst im Gefängnis München-Stadelheim hingerichtet. Was aber hat es zu bedeuten, wenn sich – wie am Wochenende – eine junge Frau während einer Kundgebung von Gegnern der Corona-Politik in Hannover auf die Bühne stellt und sagt „Hallo, ich bin Jana aus Kassel und fühle mich wie Sophie Scholl“? Sie sehe sich wie die damals 21-jährige Scholl aktiv im Widerstand, erklärt die 22-Jährige. Im Widerstand gegen die Einschränkungen wegen der CoronaKrise. Weiß Jana, was sie sagt?
Die Geschwister Scholl wussten, was sie taten. Sie wussten, dass sie mit ihren Flugblattaktionen gegen die Verbrechen des Dritten Reiches ihr Leben riskierten. Die Sehnsucht nach Freiheit und Wahrheit war letztlich stärker als die Angst vor dem Tod. „Diese Parallelisierung ist eindeutig eine Verhöhnung und Beleidigung der Opfer. Das ist so unfassbar, dass es eigentlich nicht reicht, die Aussagen historisch richtigzustellen. So etwas muss gesellschaftlich geächtet werden“, sagt der Direktor des Instituts für Zeitgeschichte München-Berlin, Andreas Wirsching, im Gespräch mit unserer Zeitung. Der Historiker ist sich zudem sicher, dass die „Leute, die auf diese Weise provozieren, ganz genau wissen, was sie da machen“. Sie würden sich ganz bewusst „aus dem Wortbaukasten des NS-Regimes“bedienen.
Einige, bei weitem nicht alle, applaudierten der Frau aus Kassel. Im Netz gab es überwiegend scharfe Kritik, aber auch Beifall. Die Frage ist, was da gerade passiert bei den Demonstrationen von „Querdenken“. Denn der Auftritt in Hannover reiht sich ein in eine lange Reihe ähnlich gelagerte Vorfälle bei den Protesten.
Da erhält in Karlsruhe eine Elfjährige Beifall, die ihr Schicksal mit
des jüdischen Mädchens Anne Frank vergleicht, die sich mit ihren Eltern und der Schwester ab 1942 in Amsterdam vor den Nazis versteckt hielt. Ihr Tagebuch, das sie in dieser Zeit führte, sollte später weltberühmt werden. Die Familie Frank wurde verraten. Anne Frank starb im Konzentrationslager Auschwitz – das elfjährige Mädchen, das in Karlsruhe auftrat, musste ihren Geburtstag wegen der Kontaktbeschränkungen heimlich feiern. Für Entsetzen sorgte vor einigen Tagen der AfD-Kreisverband Salzgitter in Niedersachsen mit einer Fotomontage im Internet. Dort war das Eingangstor des Konzentrationslagers Dachau zu sehen. Allerdings wurde der berüchtigte Spruch „Arbeit macht frei“per Bildbearbeitungsprogramm durch „Impfung macht frei“ersetzt.
Auch das kein Ausreißer: Immer trugen Demonstranten in Berlin, Leipzig oder Stuttgart gelbe Sterne, auf denen nicht – wie im Dritten Reich – „Jude“stand, sondern „Ungeimpft“. Dass das eine unerträgliche Beleidigung für Millionen von Juden ist, die im Dritten Reich ermordet wurden, schien die meisten auf den Kundgebungen gegen die Corona-Maßnahmen überhaupt nicht zu stören. Oder bemerken sie – wie diejenigen, für die die Schutzmaskenpflicht Beweis für eine im Land herrschende Diktatur ist – die Ungeheuerlichkeit gar nicht?
Insbesondere die Rolle, die die AfD bei den Protesten spielt, sieht Wirsching kritisch: „Das hat bei der AfD System. Genauso skandalös finde ich, dass diese meiner Ansicht in weiten Teilen rechtsextreme Partei den Namen des Humanisten Erasmus von Rotterdam als Namensgedem ber für ihre Parteistiftung missbraucht hat.“Im Übrigen habe die Partei Sophie Scholl bereits 2017 für ihre Zwecke instrumentalisiert. Der AfD-Kreisverband Nürnberg-Süd/ Schwabach löste vor drei Jahren mit einem virtuellen Wahlplakat bundesweit Empörung aus. Neben dem Konterfei der Widerstandskämpferin stand der Satz: „Sophie Scholl würde AfD wählen.“
Natürlich ist Widerspruch gegen Corona-Beschränkungen legitim. Unbehagen gegen die jüngst beschlossene Novelle des Infektionsschutzgesetzes wird von renommierten Staatsrechtlern durchaus geteilt. Kritiker sehen die Befugnisse des Parlamentes zu stark eingeschränkt. Der Bielefelder Professor Christoph Gusy schlug im Gespräch mit unserer Redaktion vor, die Gesetzesänderung, die unter einem unguten Zeitdruck zustande gekomwieder men sei, zunächst nur temporär gelten zu lassen. Nach der Pandemie könne man dann in aller Ruhe im Bundestag und Bundesrat eine unbefristete Fassung des Gesetzes ausarbeiten.
Es fällt auch Experten nicht leicht zu erklären, welche Triebkräfte gerade am Werk sind, wenn junge Frauen mit Regenbogen-Flagge in der Hand neben Esoterikern und Verschwörungstheoretikern stehen. Wenige Meter weiter flattern schwarz-weiß-rote Reichsflaggen – Symbol für rechtsradikale Gesinnung. Natürlich protestieren auch verzweifelte Ladenbesitzer, die um ihre Existenz fürchten. Und natürlich laufen nicht nur Rechtsextreme mit. Aber die Rechten sind zunehmend präsent. Der Soziologe Armin Nassehi hat sich die Bilder von den Protestzügen genau angeschaut. „Es waren sehr unterschiedliche Gruppen dabei – von Hippies bis zu Rechtsradikalen. Spannenderweise eint alle eine Art von rechter Kritik an der Gesellschaft. Gegen Pluralismus, gegen die Institutionen des Staates“, sagte der Münchner Professor unserer Redaktion. Nassehi glaubt, dass – trotz aller sichtbaren Heterogenität – die „üblichen Verdächtigen, die eigentlich gegen die Gesellschaft, ihre Institutionen und die Eliten opponieren“, in der Mehrheit sind.
Professor Wirsching, der von 1998 bis 2011 an der Universität Augsburg lehrte, beobachtet seit wenigen Jahren einen „Extremismus der Mitte“, der dazu beitrage, dass „Argumente von Rechtsextremen auch in Teilen der bürgerlichen Mitte Anklang finden“würden. Er befürchte, dass sich auch in Deutschland das Parteiensystem destabilisiert und es den demokratischen Parteien immer schwererfallen werde, getroffene Entscheidungen gemeinsam mitzutragen und untereinander koalitionsfähig zu bleiben. „Ich muss zugeben, dass ich die Entwicklungen derzeit nicht sonderlich optimistisch verfolge.“Die Corona-Pandemie wirke toxisch, weil sie die gesellschaftliche Spaltung vertieft, analysiert Wirsching.
Foto: Boris Roessler, dpa