Tourismus schadet? Tourismus hilft? „Es gibt im Umweltschutz nicht nur eine Wahrheit“
Während der Corona-Pandemie zeigt sich, welche Bedeutung das Reisen hat. WWF-Expertin Martina von Münchhausen lobt den indirekten Schutz von Wildtieren durch Urlauber. Sie benennt aber auch die Schattenseiten
Frau von Münchhausen, warum braucht es Touristen, um die Natur und die Tiere zu schützen? Es heißt doch immer wieder, der Tourist zerstöre, was er suche, indem er es finde? Martina von Münchhausen: Hier gibt es nicht nur die eine Wahrheit. Im Sommer 2018 sind rund 80 Millionen Menschen von deutschen Flughäfen in den Urlaub gestartet. Die dadurch entstandenen Treibhausgasemissionen durch Flugreisen sind sehr schlecht fürs Klima. Für touristische Infrastruktur werden weltweit kostbare Lebensräume zerstört. Vielbesuchte Destinationen sind schon lange nicht mehr in der Lage, steigende Touristenzahlen zu bewältigen, immer mehr Plastikmüll verschmutzt unsere Meere. Wasser wird knapp und natürliche Ressourcen werden übernutzt. Viele touristische Aktivitäten sind eine Zumutung und werden sogar zu einer Bedrohung für Natur- und Tierwelt. Alles richtig.
Die Corona Pandemie und der damit einhergehende weltweite Kollaps des internationalen Tourismus zeigen uns aber auch, wie existenziell der Reisesektor für Natur- und Artenschutz und die lokale Bevölkerung ist. Das ist die andere Wahrheit.
Von Münchhausen: Kommen die Touristen nicht, um die Natur zu erleben, ist der Schutz dieser Orte wesentlich schwieriger, wenn nicht sogar unmöglich. Erfolgreiche Modelle für nachhaltigen Tourismus aus den letzten Jahrzehnten drohen zu zerbrechen.
Geben Sie uns doch ein paar Beispiele dafür, wie der Tourismus zur Erhaltung von Schutzgebieten beiträgt.
Von Münchhausen: Naturschutz braucht Naturschutzgebiete. Und diese können nur akzeptiert und erfolgreich sein, wenn sie durch Besucher und Tourismus-Einnahmen finanziert werden können. Das gilt in den Nationalparken Wattenmeer oder Bayerischer Wald genauso wie in den Meeresschutzgebieten rund um Galapagos, vor der Küste Mexikos oder im Krüger Nationalpark Südafrikas.
Schauen wir uns die Meeresschutzgebiete und Korallenriffe an, die durch touristischen Aktivitäten rund 36 Milliarden Dollar weltweit erwirtschaften: An den Küsten Mittelamerikas erstreckt sich das zweitgrößte Korallenriff der Welt. In den unter Schutz gestellten Gebieten des Mesoamerikanischen Riffs werden 50 Prozent des Schutzgebietsmanagements über Tourismus-Einnahmen finanziert. In Belize wurden jetzt mehr als die Hälfte der staatlichen Mitarbeiter, die für den Schutz und das Monitoring und die Gästeführung sorgen, entlassen.
In Dzanga-Sangha im Herzen des Kongobeckens ist das Schutzgebiet bis auf Weiteres für Touristen und Wissenschaftler geschlossen. Flachlandgorillas werden hier vorsichtig
Wenn wir so weitermachen wie bisher, Wälder und andere Lebensräume zerstören, Luft, Wasser und Boden verschmutzen, stehlen wir unseren Kindern und Kindeskindern die Zukunft“schreibt Naturschützerin Jane Goodall im Vorwort des Bildbands „Wilder Wald“, der sich mit der 50-jährigen Erfolgsgeschichte des Nationalparks Bayerischer Wald befasst.
„Natur Natur sein lassen“, war von Anfang an die Philosophie in Deutschlands ältestem Großschutzgebiet. Sie stieß nicht überall auf Verständnis, wie aus der Vorgeschichte hervorgeht. Doch Alexandra von Poschinger fand für ihr Buchprojekt engagierte Menschen, die sich der ökologischen Verantwortung stellen. Namhafte Künstler und Naturschützer, Naturfilmer und Grünenpolitiker, Klimaforüber Jahre an die Präsenz des Menschen gewöhnt, auch um Touristen Gorilla-Beobachtungen zu ermöglichen. Die Einnahmen, die sowohl Gemeindevorhaben, die Parkverwaltung sowie das Gorillaprogramm selbst finanzieren, fehlen jetzt.
In Namibia finanziert der internationale Tourismus Wildhüter, Nashorn Ranger und das gemeindebasierte Naturschutzprogramm Namibias. Das seit nun fast 30 Jahren bestehende gemeindebasierte Tourismuskonzept ist die wirksamste Form des Naturschutzes. Durch diese Schutzbemühungen konnten sich die Elefanten-und Nashornzahlen in Namibia verdreifachen.
In Nepal, in der Terai Arc Landschaft in der östlichen Himalaja Region, hat der Tourismus in den letzten zehn Jahren dazu geführt, dass ländliche Gemeinden vom Naturschutz profitieren. Die Überwachung der Wildtiere hat zur Stabilität der Tierbestände beigetragen und die Lebensbedingungen der Landbevölkerung verbessert.
Im südlichen Kaukasus befindet sich der Mtirala Nationalpark mit beeindruckenden Berglandschaften, Regenwäldern und einer Vielfalt an endemischen und gefährdeten Tierund Pflanzenarten. Der Nationalpark ist seit vielen Jahren ein Paradebeispiel für erfolgreichen, naturnahen Tourismus für Georgien geworden.
Ich könnte Ihnen noch sehr viele weitere Beispiele schildern. Viele Schutzgebiete werden politisch ihren Status nur halten können, wenn sie auch ökonomisch tragfähig bleiben. Das kann der Tourismus schaffen. Ist das nicht mehr der Fall, werden die wertvollen und bedrohten Ökosysteme und Habitate wieder stärker einer nicht nachhaltigen Nutzung überlassen. Verschwinden sie, haben auch die dort lebenden Wildtiere keine Chance mehr.
Darwin sprach vom „Survival of the Fittest“. Gemeint ist damit das Überleben der am besten an die Verhältnisse angepassten Arten. Reicht es denn nicht, die Natur sich selbst zu überlassen?
Von Münchhausen: Nein, wir Menschen haben mittlerweile die Lebensräume auf unserem Planeten nach unseren Vorstellungen und Bedürfnissen gestaltet. Da gibt es wenig Spielraum für die Natur, sich selbst zu helfen. Seit 1970 verzeichnen wir einen Rückgang von fast 70 Prozent der Wirbeltierbestände. Nur noch vier Prozent der gesamten Masse an Säugetieren sind Wildtiere.
Einige Arten sind besonders betroffen: Dazu zählen die Nahrungsspezialisten wie der große Pandabär oder die sich sehr langsam fortpflanzenden Arten wie Wale und OrangUtans, große Tierarten, die weitläufige Lebensräume benötigen und viel Futter wie etwa Elefanten oder auch Arten, die nur in einem bestimmten Lebensraum heimisch sind etwa der Sumatra-Tiger. Wollen wir in Kauf nehmen, dass diese Arten alle verschwinden?
Das wäre natürlich eine Katastrophe. Wird die durch das Fehlen von Touristen noch weiter befördert? Einfach weil den Menschen in den Entwicklungsländern mit dem Ausbleiben der Touristen die Existenzgrundlage wegzubrechen droht? Kommt es dann womöglich aus purer Not zu vermehrter Wilderei?
Von Münchhausen: Da gibt es viele Beispiele: So versorgt die Mara Naboisho Conservancy in Kenia rund 600 Massai Familien. Mit dem Ausbleiben der Touristen stehen sie vor dem Nichts. In der puren Not gerät der Schutzgedanke unweigerlich in den Hintergrund und Wilderei, illegale Fischerei und Abholzung nehmen zu.
Die Koexistenz mit Wildtieren verläuft schon in Nicht-Krisenzeiten nicht immer harmonisch und konfliktfrei. Das ist überall auf der Welt der Fall. Der Tourismus ist hier Puffer und Ausgleich. Fehlt er und das damit verbundene Subsistenzeinkommen, geraten die Menschen unverschuldet in Not und fangen wieder an zu wildern. Ein Teufelskreis: Wenn die Wildtierzahlen wieder dramatisch einbrechen und natürliche Ressourcen verschwinden, gibt es auch keine Basis mehr für gemeindebasierte und nachhaltige Tourismuskonzepte.
Und wie sieht es für den Tourismus aus? Verliert er in diesen LockdownZeiten den Anspruch auf Nachhaltigkeit?
Von Münchhausen: Das wird sich zeigen. Im Moment sind wir zuversichtlich, dass sich der Tourismus eher mehr hin zu Nachhaltigkeit dreht. Aber gibt es erst mal einen Impfstoff und die Menschen dürfen sich wieder frei bewegen und ins Flugzeug steigen, sind die Naturund Lebensraumzerstörung, die Verbreitung von Zoonosen und Entstehung von Pandemien schnell wieder vergessen.
Vor Corona sprachen wir immer so lapidar davon, dass Tourismus eine intakte Natur benötigt – als Basis für das touristische Geschäft. Wie sehr dies im wortwörtlichen Sinn der Fall ist, erleben wir jetzt.
Je stärker der Mensch in die Wälder und Ökosysteme eingreift, desto stärker wächst die Gefahr der Pandemien. Der Tourismus, der von der Pandemie am härtesten betroffene Sektor, ist doch die Branche schlechthin, die sich für mehr Naturschutz, für ein striktes Verbot von illegalem Wildtierhandel, für eine Ausweitung von Schutzgebieten und für eine nachhaltigere Lebensweise einsetzen sollte. Sowohl bei der Gestaltung der Reisen, aber auch mit mehr Einsatz auf politischer Ebene!
Überleben auch da die am besten an die Verhältnisse angepassten Veranstalter? Und wie müssten die ausgerichtet sein?
Von Münchhausen: Der Tourismus muss aus dieser Pandemie Lehren ziehen. Der Preis einer Reise darf nicht länger ausschlaggebend sein. Reisen muss verantwortungsvoller werden und für Mensch und Natur gleichermaßen Unterstützung bieten. Nur wenn er auch für die Zielgebiete Verantwortung übernimmt, kann der Tourismus auch weiterhin die so lang ersehnten und auch wichtigen Auszeiten vom Alltag bieten.