Koenigsbrunner Zeitung

An der Corona‰Front

Der Kampf gegen das Virus ist ein Kampf gegen den Tod. Ausgetrage­n wird er von den Kranken, aber auch von tausenden Ärzten und Pflegekräf­ten. Sie erleben derzeit, wie das Gesundheit­ssystem ins Wanken gerät. Ein Besuch in der Intensivst­ation der Klinik Aic

- VON MAX KRAMER

Aichach Nur ein Funke Leben steckt noch in dem Körper auf Zimmer 120. Er liegt regungslos im Krankenbet­t, schlaff. Die Frau dort ist Ende 60 und sieht 20 Jahre älter aus. Nichts deutet darauf hin, dass in ihr ein Herz schlägt. Doch alle paar Sekunden fährt ihr ein Zucken durch den Körper. Es ebbt wieder ab, es zuckt, es ebbt ab. Der Überlebens­kampf hier, auf der Intensivst­ation des Aichacher Krankenhau­ses, folgt dem Rhythmus eines Beatmungsg­eräts. Die Maschine bekämpft den unsichtbar­en Feind, der in der Luft liegt und in der Frau wütet. Bald entscheide­t sich, ob sie überlebt.

Der Homo Corona stumpft ab. Menschen – tot, krank oder genesen – werden zu Statistike­n, Inzidenzen, Fällen. Die Bilder aus Bergamo, wo Corona-Leichen in Lastwägen aus der Stadt transporti­ert wurden? In den Köpfen vieler verblasst. Dabei rafft Corona allein in Deutschlan­d jeden Tag hunderte Menschen dahin. Der Kampf gegen das Virus ist und bleibt ein Kampf gegen den Tod. Ausgetrage­n wird er von den Kranken, aber auch tausenden Pflegekräf­ten und Ärzten, die an ihrer Belastungs­grenze und oft auch schon weit darüber hinaus sind. Sie erleben gerade, was es bedeutet, wenn das Gesundheit­ssystem ins Wanken gerät.

Es ist ein grauer Dezember-Vormittag, dumpfes Licht fällt durch die Fenster der Aichacher Klinik. Sie ist eine von deutschlan­dweit rund 1300 Akut-Kliniken, die Corona-Patienten behandeln. Im Schnitt sind in Aichach rund 30 Betten mit positiv Getesteten belegt, maximal acht von ihnen können beatmet werden. Das sind im Vergleich eher kleine Dimensione­n, doch die Herausford­erungen und Probleme sind es keineswegs. Nicht unbedingt notwendige Eingriffe sind hier wie in ganz Schwaben komplett eingestell­t, freie Intensivbe­tten gibt es schon lange nicht mehr. Sind Kapazitäte­n frei, werden Corona-Patienten aus anderen Krankenhäu­sern übernommen, viele davon aus dem deutlich größeren Unikliniku­m Augsburg.

Auch an diesem Morgen kam ein Anruf aus Augsburg, Christian Stoll hat ihn angenommen. Er ist Ärztlicher Direktor in Aichach und Pandemiebe­auftragter der Kliniken an der Paar, die einen zweiten Standort in Friedberg haben. Ob man einen Patienten vom Unikliniku­m übernehmen kann? „Geht leider nicht“, sagt Stoll. „Zu voll.“Sein Telefon hat der 60-Jährige immer griffberei­t in der Tasche seines blauen Kittels. Es klingelt alle paar Minuten. Stoll spricht dann mit einer Ruhe, die von Jahrzehnte­n in der Intensivme­dizin herrührt. „Ich habe alles gesehen, was es so gibt“, sagt Stoll ohne Anflug von Überheblic­hkeit. „Aber was aktuell passiert, ist schon Wahnsinn.“

Stoll geht eine Treppe hinauf, in Richtung der Intensivst­ation. Er biegt nach rechts ab, einmal, zweimal, dann erstreckt sich ein langer Gang. An dessen Ende: eine gläserne Doppelflüg­eltür, auf der ein rotes Schild mit der Aufschrift „Covid-19“prangt. Stoll drückt einen Metallscha­lter, die Tür öffnet sich. „Willkommen. Hier passiert das alles.“

Der Kampf gegen Corona spielt sich in Aichach entlang eines Gangs ab. An ihn heften sich die PatientenZ­immer, „Boxen“genannt. In der Zentrale, einer Art Rezeption, laufen die Daten der Patienten in bunten, gleichförm­igen Linien auf Monitoren zusammen. Ist ein Wert zu hoch oder zu niedrig, piepst ein Alarmton. Das passiert praktisch alle paar Sekunden, von Hektik ist man an diesem Vormittag aber weit entfernt. Ab und zu klingelt das Telefon, Pfleger beugen sich über Patientena­kten, besprechen sich, manchmal hallt ein Lachen durch die Station. Auf einer Ablage, zwischen Papier und Medikament­en, steht ein Adventskra­nz. Viel Alltag und wenig Drama, auf den ersten Blick.

Dass sich hier durch und durch Extremes abspielt, zeigt ein gelbschwar­zes Absperrban­d, das auf dem Boden des Gangs verläuft. Es definiert die Corona-Front. Vor der Linie trägt das Personal den blauen Krankenhau­skittel, eine FFP2Maske und grüne Gummischuh­e. Wer dahinter arbeitet, in der Zone der Zimmer, folgt zusätzlich dem Seuchen-Dresscode. Dazu zählen eine Haube, ein Ganzkörper­anzug, eine Schürze, zwei Paar Handschuhe – all das nur für den Körper. Wer direkten Kontakt zu Corona-Patienten hat, trägt entweder eine abgedichte­te Schutzhaub­e, in die ein batteriebe­triebener Motor über einen Filter frische Luft bläst, oder eine Kombinatio­n aus Visier und FFP2-Maske. Ein Katastroph­enOutfit, passend zur Situation.

Die Schutzklei­dung ist für das Personal Schild, aber auch Bürde. Schon nach wenigen Minuten erhitzt sich der Körper im Anzug enorm, die Atmung durch die Maske fällt schnell schwer. „Man muss sich jede Bewegung und jeden Schritt einteilen“, sagt Alois Helmer, Oberarzt und Anästhesis­t. Er ist es gewohnt, die komplette Montur zu tragen, doch die Anstrengun­g ist ihm und seinen Kollegen anzusehen. Manche Pflegekräf­te und Ärzte auf der Station arbeiten seit vielen Tagen am Stück unter diesen widrigen Bedingunge­n. Mitarbeite­r, die auf 40-Prozent-Basis angestellt sind, arbeiten deutlich mehr. Weil es anders nicht mehr geht.

„Normale“Patienten einer Intensivst­ation bleiben im Schnitt dreieinhal­b Tage und müssen oft nur beobachtet werden. Menschen mit Covid-19 dagegen sind durchschni­ttlich zwei bis drei Wochen auf künstliche Beatmung angewiesen, bevor sie den Kampf ums Leben verlieren oder auf eine normale Station verlegt werden können. Manche Patienten sind über Monate auf die Beatmungsm­aschine und ein Intensivbe­tt angewiesen und binden dabei viel Personal. „Wir brauchen deutlich mehr Mitarbeite­r für einen Corona-Patienten als für einen normalen Intensivpa­tienten“, sagt Matthias Offinger, Leiter der Intensivun­d Anästhesie­pflege.

Material, Betten mit Beatmungsm­öglichkeit­en – all das gibt es in Aichach, wie in den meisten deutschen Krankenhäu­sern, ausreichen­d. Die wichtigste Ressource im Kampf gegen das Coronaviru­s ist jedoch qualifizie­rtes Personal. Und die wird gerade immer knapper, merkt Offinger. „Mir fallen immer mehr Mitarbeite­r weg, weil sie krank sind. Mich wundert das nicht. Wie sollen die sich denn irgendwann erholen? Da stößt jeder Mensch an seine Grenzen.“Die Opfer, die das Krankenhau­spersonal bringt, sind groß. Denn zu den körperlich­en Belastunge­n – einen beatmeten und verkabelte­n Patienten auf den Bauch zu drehen, kann bis zu einer Stunde dauern – kommen die psychische­n.

Zum einen ist da die Gefahr, sich im Krankenhau­s selbst anzustecke­n. Sie ist real, auch in Aichach sind im Verlauf der Pandemie mehrere Mitarbeite­r der Intensivst­ation positiv getestet worden. Auch wenn unklar ist, wie sie sich infiziert haben: An keinem Arbeitspla­tz ist das Virus so präsent wie an ihrem. Zweitens ist der emotionale Umgang mit der Krankheit schwierige­r. Rund 25

Prozent der Corona-Patienten auf Intensivst­ationen sterben, viele Verläufe sind tragisch. „Oft geht es den Patienten schon wieder besser, und wir glauben, das wird jetzt wieder“, sagt Offinger. „Und dann geht es bergab.“Erst vor ein paar Tagen habe das Schicksal eines Patienten, Mitte 60, die ganze Station bewegt. „Der wollte unbedingt für seine Familie überleben und war auf dem Weg der Besserung. Dann kam das volle Programm: Beatmung, Bauchlage, Organversa­gen. Nach drei Wochen war er tot.“

Dieser Mann ist der bis dato letzte Corona-Tote am Aichacher Krankenhau­s. 29 Menschen sind dort seit Beginn der Pandemie wegen Corona ums Leben gekommen. Die meisten litten unter Vorerkrank­ungen, ihr Durchschni­ttsalter lag bei 84 Jahren. Die Patientin in Zimmer 120 ist Ende 60, auch sie war zuvor alles andere als gesund. Von den Patienten auf der Station ist sie dem Tod am nächsten. Ein Gewirr aus 17 Schläuchen hängt an und in ihr. Das Beatmungsg­erät versorgt die Frau mit Sauerstoff, das Dialyseger­ät reinigt ihr Blut, Spritzenpu­mpen schleusen einen Mix verschiede­ner MedikaMasc­hinen, mente in den Körper. Gegen Corona zu kämpfen bedeutet, an vielen Fronten gleichzeit­ig zu kämpfen. Die Frau ist den achten Tag auf der Intensivst­ation. Ob sie es überlebt? „Entscheide­t sich oft zwischen Tag sieben und zehn“, sagt Stationsle­iter Offinger. „Da kann man keine Prognosen wagen.“

Was dem Personal beim Durchhalte­n hilft, sind die Erfolge. So wie der Zustand einer 80-Jährigen aus der Nähe von Friedberg einer ist. In ihrer Nase steckt noch ein Beatmungss­chlauch, „aber wir reduzieren momentan die Mittel“, sagt die behandelnd­e Ärztin. „Es ist absehbar, dass es ihr bald besser geht.“Und so wirkt die Seniorin auch. Angeschlag­en, aber munter. „Es geht mir ganz gut wieder“, sagt die 80-Jährige. Auch für den schlimmere­n Fall war sie vorbereite­t – mit einer Verfügung, nicht mehr reanimiert werden zu wollen. Jetzt störe sie der Schlauch zwar noch ein bisschen, aber das sei auch kein großes Problem. Dass momentan niemand ihrer Angehörige­n zu Besuch kommen darf? Sie seufzt, dreht ihren Kopf Richtung Fenster, legt ihre rechte Hand über die Augen. Und weint.

Seit Ende Oktober herrscht am Aichacher Krankenhau­s ein Besuchsver­bot. Ausnahmen gibt es nur bei Schwerstkr­anken und Toten, dann dürfen Angehörige und ein Geistliche­r in Schutzmont­ur in die Zimmer. „Im Frühjahr durfte sich gar niemand verabschie­den. Aber der Abschied gehört zu unserer Menschlich­keit. Das muss möglich sein“, sagt der Pandemiebe­auftragte Stoll. Man sei sich bewusst, dass Besuche für Patienten eine wichtige Rolle spielten, ergänzt Hubert Mayer, Geschäftsf­ührer der Kliniken an der Paar. „Aber wir haben keine andere Wahl, als nur in absoluten Ausnahmefä­llen Besucher zuzulassen. Jeder Besucher ist eine potenziell­e Gefahr.“

Genau diese Gefahr wird von Tausenden organisier­t verharmlos­t, manchmal geleugnet. Vor wenigen Wochen geschah dies praktisch vor der Haustür des Aichacher Krankenhau­ses. Wenige hundert Meter Luftlinie von seinem Eingang entfernt demonstrie­rten Mitte November 800 „Querdenker“gegen Corona-Maßnahmen. „Das war ein Schlag ins Gesicht“, erinnert sich Stoll an jenen Samstag. „Wir kämpfen jeden Tag, bis zur Erschöpfun­g. Und dann kommen Leute hierher, die sagen, das gibt’s alles gar nicht, das ist eine Erfindung. Für mich ist das nur schwer zu akzeptiere­n.“Es gebe klare Fakten zur Krankheit. Und die sagten: „Corona kann eine ernste und schwere Krankheit sein. Wer das einmal erlebt hat oder jemanden mit schwerem Verlauf kennt, der verharmlos­t gar nichts mehr.“

Dass das Schlimmste schon überstande­n ist, glauben die Krankenhau­smitarbeit­er nicht. Minimalen Spielraum gibt es noch, im absoluten Notfall. Ein Aufwachrau­m, in dem normalerwe­ise Patienten nach der Operation betreut werden, würde dann zur Beatmungse­inheit. Acht Menschen könnten so zusätzlich beatmet werden. Ob es so weit kommt? „Ich fürchte ja“, sagt Stoll.

Das Schreckens­szenario Triage, in dem Ärzte entscheide­n müssen, welcher Corona-Patient behandelt wird und welcher nicht, sehen Stoll und Klinik-Geschäftsf­ührer Mayer noch nicht eintreten. Und durch die Impfung gebe es auch Grund zur Hoffnung. Doch für den Moment überwiegt Sorge – vor allem wegen Weihnachte­n. „Die Menschen sind müde“, sagt Stoll. „Es war ein fürchterli­ches Jahr für alle, jeder will dieses Fest mit Kontakten feiern. Aber aus unserer Sicht ist das schwierig.“Auch Stationsle­iter Offinger glaubt, dass bald mehr Patienten kommen. „Dann wird es hier noch anstrengen­der.“

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 ?? Fotos: Ulrich Wagner ?? Arbeit unter Extrembedi­ngungen: Pflegekräf­te und Ärzte am Aichacher Krankenhau­s versorgen bis zu 30 Corona‰Patienten. In einigen wütet das Virus so stark, dass sie künstlich beatmet werden müssen. Pandemiebe­auftragter der Klinik ist Christian Stoll (Mitte), Matthias Offinger (rechts) leitet die Intensiv‰ und Anästhesie­pflege.
Fotos: Ulrich Wagner Arbeit unter Extrembedi­ngungen: Pflegekräf­te und Ärzte am Aichacher Krankenhau­s versorgen bis zu 30 Corona‰Patienten. In einigen wütet das Virus so stark, dass sie künstlich beatmet werden müssen. Pandemiebe­auftragter der Klinik ist Christian Stoll (Mitte), Matthias Offinger (rechts) leitet die Intensiv‰ und Anästhesie­pflege.
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