An der CoronaFront
Der Kampf gegen das Virus ist ein Kampf gegen den Tod. Ausgetragen wird er von den Kranken, aber auch von tausenden Ärzten und Pflegekräften. Sie erleben derzeit, wie das Gesundheitssystem ins Wanken gerät. Ein Besuch in der Intensivstation der Klinik Aic
Aichach Nur ein Funke Leben steckt noch in dem Körper auf Zimmer 120. Er liegt regungslos im Krankenbett, schlaff. Die Frau dort ist Ende 60 und sieht 20 Jahre älter aus. Nichts deutet darauf hin, dass in ihr ein Herz schlägt. Doch alle paar Sekunden fährt ihr ein Zucken durch den Körper. Es ebbt wieder ab, es zuckt, es ebbt ab. Der Überlebenskampf hier, auf der Intensivstation des Aichacher Krankenhauses, folgt dem Rhythmus eines Beatmungsgeräts. Die Maschine bekämpft den unsichtbaren Feind, der in der Luft liegt und in der Frau wütet. Bald entscheidet sich, ob sie überlebt.
Der Homo Corona stumpft ab. Menschen – tot, krank oder genesen – werden zu Statistiken, Inzidenzen, Fällen. Die Bilder aus Bergamo, wo Corona-Leichen in Lastwägen aus der Stadt transportiert wurden? In den Köpfen vieler verblasst. Dabei rafft Corona allein in Deutschland jeden Tag hunderte Menschen dahin. Der Kampf gegen das Virus ist und bleibt ein Kampf gegen den Tod. Ausgetragen wird er von den Kranken, aber auch tausenden Pflegekräften und Ärzten, die an ihrer Belastungsgrenze und oft auch schon weit darüber hinaus sind. Sie erleben gerade, was es bedeutet, wenn das Gesundheitssystem ins Wanken gerät.
Es ist ein grauer Dezember-Vormittag, dumpfes Licht fällt durch die Fenster der Aichacher Klinik. Sie ist eine von deutschlandweit rund 1300 Akut-Kliniken, die Corona-Patienten behandeln. Im Schnitt sind in Aichach rund 30 Betten mit positiv Getesteten belegt, maximal acht von ihnen können beatmet werden. Das sind im Vergleich eher kleine Dimensionen, doch die Herausforderungen und Probleme sind es keineswegs. Nicht unbedingt notwendige Eingriffe sind hier wie in ganz Schwaben komplett eingestellt, freie Intensivbetten gibt es schon lange nicht mehr. Sind Kapazitäten frei, werden Corona-Patienten aus anderen Krankenhäusern übernommen, viele davon aus dem deutlich größeren Uniklinikum Augsburg.
Auch an diesem Morgen kam ein Anruf aus Augsburg, Christian Stoll hat ihn angenommen. Er ist Ärztlicher Direktor in Aichach und Pandemiebeauftragter der Kliniken an der Paar, die einen zweiten Standort in Friedberg haben. Ob man einen Patienten vom Uniklinikum übernehmen kann? „Geht leider nicht“, sagt Stoll. „Zu voll.“Sein Telefon hat der 60-Jährige immer griffbereit in der Tasche seines blauen Kittels. Es klingelt alle paar Minuten. Stoll spricht dann mit einer Ruhe, die von Jahrzehnten in der Intensivmedizin herrührt. „Ich habe alles gesehen, was es so gibt“, sagt Stoll ohne Anflug von Überheblichkeit. „Aber was aktuell passiert, ist schon Wahnsinn.“
Stoll geht eine Treppe hinauf, in Richtung der Intensivstation. Er biegt nach rechts ab, einmal, zweimal, dann erstreckt sich ein langer Gang. An dessen Ende: eine gläserne Doppelflügeltür, auf der ein rotes Schild mit der Aufschrift „Covid-19“prangt. Stoll drückt einen Metallschalter, die Tür öffnet sich. „Willkommen. Hier passiert das alles.“
Der Kampf gegen Corona spielt sich in Aichach entlang eines Gangs ab. An ihn heften sich die PatientenZimmer, „Boxen“genannt. In der Zentrale, einer Art Rezeption, laufen die Daten der Patienten in bunten, gleichförmigen Linien auf Monitoren zusammen. Ist ein Wert zu hoch oder zu niedrig, piepst ein Alarmton. Das passiert praktisch alle paar Sekunden, von Hektik ist man an diesem Vormittag aber weit entfernt. Ab und zu klingelt das Telefon, Pfleger beugen sich über Patientenakten, besprechen sich, manchmal hallt ein Lachen durch die Station. Auf einer Ablage, zwischen Papier und Medikamenten, steht ein Adventskranz. Viel Alltag und wenig Drama, auf den ersten Blick.
Dass sich hier durch und durch Extremes abspielt, zeigt ein gelbschwarzes Absperrband, das auf dem Boden des Gangs verläuft. Es definiert die Corona-Front. Vor der Linie trägt das Personal den blauen Krankenhauskittel, eine FFP2Maske und grüne Gummischuhe. Wer dahinter arbeitet, in der Zone der Zimmer, folgt zusätzlich dem Seuchen-Dresscode. Dazu zählen eine Haube, ein Ganzkörperanzug, eine Schürze, zwei Paar Handschuhe – all das nur für den Körper. Wer direkten Kontakt zu Corona-Patienten hat, trägt entweder eine abgedichtete Schutzhaube, in die ein batteriebetriebener Motor über einen Filter frische Luft bläst, oder eine Kombination aus Visier und FFP2-Maske. Ein KatastrophenOutfit, passend zur Situation.
Die Schutzkleidung ist für das Personal Schild, aber auch Bürde. Schon nach wenigen Minuten erhitzt sich der Körper im Anzug enorm, die Atmung durch die Maske fällt schnell schwer. „Man muss sich jede Bewegung und jeden Schritt einteilen“, sagt Alois Helmer, Oberarzt und Anästhesist. Er ist es gewohnt, die komplette Montur zu tragen, doch die Anstrengung ist ihm und seinen Kollegen anzusehen. Manche Pflegekräfte und Ärzte auf der Station arbeiten seit vielen Tagen am Stück unter diesen widrigen Bedingungen. Mitarbeiter, die auf 40-Prozent-Basis angestellt sind, arbeiten deutlich mehr. Weil es anders nicht mehr geht.
„Normale“Patienten einer Intensivstation bleiben im Schnitt dreieinhalb Tage und müssen oft nur beobachtet werden. Menschen mit Covid-19 dagegen sind durchschnittlich zwei bis drei Wochen auf künstliche Beatmung angewiesen, bevor sie den Kampf ums Leben verlieren oder auf eine normale Station verlegt werden können. Manche Patienten sind über Monate auf die Beatmungsmaschine und ein Intensivbett angewiesen und binden dabei viel Personal. „Wir brauchen deutlich mehr Mitarbeiter für einen Corona-Patienten als für einen normalen Intensivpatienten“, sagt Matthias Offinger, Leiter der Intensivund Anästhesiepflege.
Material, Betten mit Beatmungsmöglichkeiten – all das gibt es in Aichach, wie in den meisten deutschen Krankenhäusern, ausreichend. Die wichtigste Ressource im Kampf gegen das Coronavirus ist jedoch qualifiziertes Personal. Und die wird gerade immer knapper, merkt Offinger. „Mir fallen immer mehr Mitarbeiter weg, weil sie krank sind. Mich wundert das nicht. Wie sollen die sich denn irgendwann erholen? Da stößt jeder Mensch an seine Grenzen.“Die Opfer, die das Krankenhauspersonal bringt, sind groß. Denn zu den körperlichen Belastungen – einen beatmeten und verkabelten Patienten auf den Bauch zu drehen, kann bis zu einer Stunde dauern – kommen die psychischen.
Zum einen ist da die Gefahr, sich im Krankenhaus selbst anzustecken. Sie ist real, auch in Aichach sind im Verlauf der Pandemie mehrere Mitarbeiter der Intensivstation positiv getestet worden. Auch wenn unklar ist, wie sie sich infiziert haben: An keinem Arbeitsplatz ist das Virus so präsent wie an ihrem. Zweitens ist der emotionale Umgang mit der Krankheit schwieriger. Rund 25
Prozent der Corona-Patienten auf Intensivstationen sterben, viele Verläufe sind tragisch. „Oft geht es den Patienten schon wieder besser, und wir glauben, das wird jetzt wieder“, sagt Offinger. „Und dann geht es bergab.“Erst vor ein paar Tagen habe das Schicksal eines Patienten, Mitte 60, die ganze Station bewegt. „Der wollte unbedingt für seine Familie überleben und war auf dem Weg der Besserung. Dann kam das volle Programm: Beatmung, Bauchlage, Organversagen. Nach drei Wochen war er tot.“
Dieser Mann ist der bis dato letzte Corona-Tote am Aichacher Krankenhaus. 29 Menschen sind dort seit Beginn der Pandemie wegen Corona ums Leben gekommen. Die meisten litten unter Vorerkrankungen, ihr Durchschnittsalter lag bei 84 Jahren. Die Patientin in Zimmer 120 ist Ende 60, auch sie war zuvor alles andere als gesund. Von den Patienten auf der Station ist sie dem Tod am nächsten. Ein Gewirr aus 17 Schläuchen hängt an und in ihr. Das Beatmungsgerät versorgt die Frau mit Sauerstoff, das Dialysegerät reinigt ihr Blut, Spritzenpumpen schleusen einen Mix verschiedener MedikaMaschinen, mente in den Körper. Gegen Corona zu kämpfen bedeutet, an vielen Fronten gleichzeitig zu kämpfen. Die Frau ist den achten Tag auf der Intensivstation. Ob sie es überlebt? „Entscheidet sich oft zwischen Tag sieben und zehn“, sagt Stationsleiter Offinger. „Da kann man keine Prognosen wagen.“
Was dem Personal beim Durchhalten hilft, sind die Erfolge. So wie der Zustand einer 80-Jährigen aus der Nähe von Friedberg einer ist. In ihrer Nase steckt noch ein Beatmungsschlauch, „aber wir reduzieren momentan die Mittel“, sagt die behandelnde Ärztin. „Es ist absehbar, dass es ihr bald besser geht.“Und so wirkt die Seniorin auch. Angeschlagen, aber munter. „Es geht mir ganz gut wieder“, sagt die 80-Jährige. Auch für den schlimmeren Fall war sie vorbereitet – mit einer Verfügung, nicht mehr reanimiert werden zu wollen. Jetzt störe sie der Schlauch zwar noch ein bisschen, aber das sei auch kein großes Problem. Dass momentan niemand ihrer Angehörigen zu Besuch kommen darf? Sie seufzt, dreht ihren Kopf Richtung Fenster, legt ihre rechte Hand über die Augen. Und weint.
Seit Ende Oktober herrscht am Aichacher Krankenhaus ein Besuchsverbot. Ausnahmen gibt es nur bei Schwerstkranken und Toten, dann dürfen Angehörige und ein Geistlicher in Schutzmontur in die Zimmer. „Im Frühjahr durfte sich gar niemand verabschieden. Aber der Abschied gehört zu unserer Menschlichkeit. Das muss möglich sein“, sagt der Pandemiebeauftragte Stoll. Man sei sich bewusst, dass Besuche für Patienten eine wichtige Rolle spielten, ergänzt Hubert Mayer, Geschäftsführer der Kliniken an der Paar. „Aber wir haben keine andere Wahl, als nur in absoluten Ausnahmefällen Besucher zuzulassen. Jeder Besucher ist eine potenzielle Gefahr.“
Genau diese Gefahr wird von Tausenden organisiert verharmlost, manchmal geleugnet. Vor wenigen Wochen geschah dies praktisch vor der Haustür des Aichacher Krankenhauses. Wenige hundert Meter Luftlinie von seinem Eingang entfernt demonstrierten Mitte November 800 „Querdenker“gegen Corona-Maßnahmen. „Das war ein Schlag ins Gesicht“, erinnert sich Stoll an jenen Samstag. „Wir kämpfen jeden Tag, bis zur Erschöpfung. Und dann kommen Leute hierher, die sagen, das gibt’s alles gar nicht, das ist eine Erfindung. Für mich ist das nur schwer zu akzeptieren.“Es gebe klare Fakten zur Krankheit. Und die sagten: „Corona kann eine ernste und schwere Krankheit sein. Wer das einmal erlebt hat oder jemanden mit schwerem Verlauf kennt, der verharmlost gar nichts mehr.“
Dass das Schlimmste schon überstanden ist, glauben die Krankenhausmitarbeiter nicht. Minimalen Spielraum gibt es noch, im absoluten Notfall. Ein Aufwachraum, in dem normalerweise Patienten nach der Operation betreut werden, würde dann zur Beatmungseinheit. Acht Menschen könnten so zusätzlich beatmet werden. Ob es so weit kommt? „Ich fürchte ja“, sagt Stoll.
Das Schreckensszenario Triage, in dem Ärzte entscheiden müssen, welcher Corona-Patient behandelt wird und welcher nicht, sehen Stoll und Klinik-Geschäftsführer Mayer noch nicht eintreten. Und durch die Impfung gebe es auch Grund zur Hoffnung. Doch für den Moment überwiegt Sorge – vor allem wegen Weihnachten. „Die Menschen sind müde“, sagt Stoll. „Es war ein fürchterliches Jahr für alle, jeder will dieses Fest mit Kontakten feiern. Aber aus unserer Sicht ist das schwierig.“Auch Stationsleiter Offinger glaubt, dass bald mehr Patienten kommen. „Dann wird es hier noch anstrengender.“