Selma Lagerlöf: Der Fuhrmann des Todes (10)
ASilvesternacht. Stark alkoholisiert bricht David auf einem Friedhof zusammen. Der Volksmund weiß: Der letzte Tote eines Jahres wird als Fuhrmann des Todes für zwölf Monate die Seelen Sterben der erlösen müssen. Eine Schauergeschichte mit sozialem Appell der ersten Literaturnobelpreisträgerin. © Projekt Gutenberg
ber da zittert und bebt die Seele vor Angst, weil sie sich in ein Land hinauswagen soll, das ihr unbekannt ist. Wie ein kleines Kind, das am Badestrand steht und sich davor fürchtet, sich in die Wogen hinauszuwagen, so ungefähr ist es der Seele zumute.
Um sich schließlich hinauszugetrauen, muß sie eine Stimme vernehmen von jemand, der schon die Ewigkeit erreicht hat, damit sie begreift, daß keine Gefahr dabei ist, sondern sich losreißt. Eine solche Stimme bin ich nun ein ganzes Jahr lang gewesen, David, und eine solche Stimme mußt du nun in dem eben angebrochenen auch sein. Und um was ich dich bitten möchte, ist, daß du dich gegen das, was dir bestimmt ist, nicht auflehnst, sondern es mit Ergebung hinnimmst, sonst bringst du schweres Leiden über dich und auch über mich.“
Der Fuhrmann senkt, als er dies sagt, den Kopf, um David Holm in die Augen zu sehen. Es sieht fast aus, als erschrecke er beim Anblick
des Trotzes und Widerstandes, der ihm da entgegenschlägt.
„Vergiß nicht, David,“fährt er noch eindringlicher und überredender fort, „dies ist nicht etwas, dem du entgehen kannst. Ich weiß noch nicht viel davon, wie es sich mit den Dingen des Jenseits verhält, bis jetzt habe ich mich sozusagen nur an der Grenze aufgehalten, aber so viel hab ich erkannt, daß es da keine Schonung gibt. Man muß das tun, was einem aufgetragen wird, ob man es mit oder gegen den Willen tut.“
Wieder schaut er David Holm in die Augen, aber nichts anderes sieht ihm daraus entgegen als die großen düsteren Zorneswolken.
„Ach, David, ich will ja nicht behaupten, daß es nicht die gräßlichste Aufgabe sei, die jemand zugeteilt werden kann, wenn er auf diesem Karren sitzen und mit diesem Gaul von Hof zu Hof fahren muß. Wo immer der Fuhrmann hinkommt, überall erwarten ihn Tränen und Klagen, nichts anderes bekommt er zu sehen als Krankheit und Zerstörung, Wunden und Blut und Schrecken. Und das ist vielleicht noch lange nicht das schwerste. Viel schlimmer ist der Anblick dessen, was in dem Innern verborgen ist, das, was sich windet, sich in Reue verzehrt und sich vor dem fürchtet, was kommen wird. Ja noch mehr: ich habe dir gesagt, daß der Fuhrknecht nur an der Grenze steht; ihm geht es wie den Menschen, er meint nur Ungerechtigkeit und Enttäuschungen und ungleiche Verteilung und erfolgloses Streben und Willkür zu sehen. Er kann nicht so weit ins Jenseits hineinschauen, um zu erkennen, ob sich dort eine Absicht und eine planmäßige Leitung findet. Manchmal sieht er einen Schimmer davon, aber meistens muß er sich durch Dunkel und Zweifel hindurchkämpfen. Und noch etwas sollst du bedenken David: nur ein Jahr lang muß der Fuhrknecht den Totenkarren fahren; aber dabei wird die Zeit nicht nach irdischen Stunden und Minuten gemessen, sondern damit er überall hingelangen kann, wo ihn seine Vorschrift hinruft, wird die Zeit in die Länge gezogen, und das eine Jahr wird so lang wie hundert und tausend andere. Und dazu kommt noch etwas: obgleich der Fuhrmann weiß, daß er nur das tut, was ihm zu tun befohlen ist, so kann sich niemand einen Begriff davon machen, wie widerwärtig, wie überdrüssig er sich selbst ist und für wie verworfen er sich seiner Aufgabe wegen hält. Aber am schlimmsten, am allerschlimmsten, David, ist doch, daß der Fuhrmann bei seinen Fahrten auch den Folgen von vielem Bösen begegnet, das er während seiner irdischen Wanderschaft begangen hat, denn wie sollte er dem entgehen können.“
Die Stimme des Fuhrmanns geht fast in ein Schreien über, und er faltet die Hände in großer Angst. Gleich darauf muß er indes gemerkt haben, daß ihm nur kalter Hohn von seinem früheren Freunde entgegenströmt, und er zieht den Mantel zu, wie wenn ihn fröre. Dann fährt er noch eindringlicher fort:
„Aber, David, ich sage dir, wie schwer das, was dich erwartet, auch immer sein mag, so solltest du dich doch nicht dagegen auflehnen, wenn du es für dich und auch für mich nicht schlimmer machen willst, als es schon ist. Denn ich darf dich jetzt nicht dir selbst überlassen, sondern es ist meine Aufgabe, dich in deine Tätigkeit einzuführen, und ich fürchte, ich fürchte, dies ist das schwerste, was mir auferlegt worden ist. Du kannst mir Widerstand leisten, so lange du willst, du kannst mich Wochen und Monate lang bei der Sense festhalten, ja, sogar bis zur nächsten Neujahrsnacht. Mein Jahr ist abgelaufen, aber ich bekomme meine Freiheit nicht eher, als bis ich dich gelehrt habe, dein Amt gutwillig zu tun.“
Während aller dieser Mitteilungen hat der Fuhrmann immer noch neben David Holm auf den Knien gelegen, und alle seine Worte haben durch die große Innigkeit, mit der sie ausgesprochen worden sind, ein noch größeres Gewicht bekommen. Er wartet noch einen Augenblick und forscht nach einem Zeichen, daß seine Worte gewirkt haben; aber bei dem früheren Kameraden ist nur der feste Entschluß lebendig, bis aufs äußerste Widerstand zu leisten.
,Ich muß am Ende doch tot sein, und daran kann ich ja nichts ändern,‘ denkt er; ,aber nichts soll mich dazu bringen, etwas mit dem Totenkarren und dem Totengaul zu schaffen zu haben. Sie müssen eine andere Arbeit für mich ersinnen; mit diesem Zeug will ich mich nicht befassen.‘
Der Fuhrmann ist im Begriff aufzustehen, als ihm plötzlich noch etwas einfällt, das er David Holm noch sagen müßte.
„Bedenke, David, bis jetzt hat nur der Georg mit dir gesprochen; aber jetzt bekommst du es mit dem Fuhrmann zu tun. Du weißt recht wohl von früher her, an wen man denkt, wenn man von dem spricht, der kein Verschonen kennt.“
Und im nächsten Augenblick steht er mit der Sense in der Hand und die Kapuze übers Gesicht hereingezogen aufrecht da.
„Gefangener, komm aus deinem Gefängnis heraus!“ruft er mit lauter, eherner Stimme.
Sofort richtet sich David Holm vom Boden auf. Er weiß nicht, wie es zugegangen ist, aber plötzlich steht er aufrecht da. Er schwankt, und die Bäume und die Kirche scheinen sich vor ihm im Kreise zu drehen, aber er findet doch rasch das Gleichgewicht wieder.
„Sieh dich um, David Holm!“befiehlt ihm eine starke Stimme; und er gehorcht in der Verwirrung des Augenblicks.
Vor ihm auf der Erde liegt lang ausgestreckt ein großer Mann von kräftigem Körperbau, der aber in schmutzige Lumpen gehüllt ist. Von Blut und Erde beschmiert, von leeren Flaschen umgeben, mit einem erhitzten, aufgedunsenen Gesicht, von dessen ursprünglichen Zügen man sich keine rechte Vorstellung mehr machen kann, liegt der Mann am Boden. Ein flackernder Lichtschein von den ziemlich entfernten Laternen wirft einen haßerfüllten widerwilligen Glanz in die schmalen Augenöffnungen.
Vor dieser liegenden Gestalt aber steht David Holm selbst.
»11. Fortsetzung folgt