Koenigsbrunner Zeitung

Auf dem Kopf

Ostern ist das Fest des Anfangs – und der Hoffnung. Es fällt in eine Zeit, in der viele Menschen ihr Leben wegen der Pandemie auf den Kopf stellen, sich beruflich neu orientiere­n müssen. Wie man den Mut dazu aufbringt und warum die Corona-Krise auch eine

- VON STEPHANIE SARTOR

Die Corona-Krise hat das Leben vieler Menschen verändert – und manchmal auch einen Neuanfang möglich gemacht.

Augsburg Manche Wege entstehen erst dadurch, dass sie gegangen werden. Dass jemand auf einen Pfad abbiegt, den er – ohne eine Pandemie, die die Welt aus den Angeln hebt – wohl nie eingeschla­gen hätte. Für Dennis Seidel besteht dieser Weg aus Schienen und Schotter. Wenn man so will, hat ihn die Corona-Krise auf den Boden zurückgeho­lt. Ja, geerdet. Denn eigentlich ist Seidel Pilot. Jetzt wird er Lokführer, tauscht Cockpit gegen Führerstan­d.

„Pilot zu werden war ein klassische­r Kindheitst­raum“, erzählt Seidel, grau-weiß kariertes Hemd, dezente Brille, kurze braune Haare, im Videochat. Seit ihn sein Opa damals mit zum Flughafen genommen hat, seit er das erste Mal Kerosin roch und Flugzeuge abheben sah, die ans andere Ende der Welt flogen, wusste Seidel, dass er auch einmal in so einer Maschine sitzen will.

2008 beendet er seine Pilotenaus­bildung, steigt bei der Luftfahrtg­esellschaf­t Walter ein, die Flüge für Air Berlin und später für Eurowings übernimmt. Seidel fliegt kreuz und quer durch Europa. Dann kommt Corona. Die Airline stellt ihren Betrieb ein. Noch glaubt Seidel, dass er in drei Monaten wieder abheben kann. Doch es kommt anders. Im April 2020 meldet die Firma nach 40 Jahren im Geschäft Insolvenz an. „Wir sind dann alle entlassen worden“, sagt Seidel und blickt ein wenig nachdenkli­ch in die Kamera.

Deshalb also nun der Neuanfang. Deshalb Schienen statt Startbahn.

So wie Dennis Seidel geht es vielen Menschen. Corona hat ihr Leben auf den Kopf gestellt. Im Jahresdurc­hschnitt waren 2020 mehr als 275000 Menschen im Freistaat arbeitslos – fast 30 Prozent mehr als 2019. Hunderttau­sende wurden in Kurzarbeit geschickt. Viele wagen deswegen nun einen Neustart – und irgendwie passt das gerade in diese Zeit, zu Ostern, dem Fest des Anfangs. Und dem Fest der Hoffnung.

Nur: Wie findet man heraus, was man will, was einen glücklich macht? Wie bringt man die Courage auf, um den Reset-Knopf zu drücken? Kurzum: Wie schafft man es, die Krise als Chance zu nutzen?

Nach seiner Kündigung sei er in eine Art Schockstar­re verfallen, sagt Seidel. „Man realisiert erst einmal gar nicht, dass da etwas zu Ende geht.“Zuerst überlegt er, sich bei einer anderen Airline zu bewerben. „Aber die Krise in der Luftfahrt ist sehr tiefgreife­nd. Es wird vier oder fünf Jahre dauern, bis man wieder auf Vor-Krisennive­au ist“, sagt Seidel. „Ich habe dann begriffen, dass ich durch Corona die Möglichkei­t habe, mir zu überlegen, was ich im Leben sonst noch machen will.“Und da neben der Fliegerei Züge zu seinen großen Leidenscha­ften gehören, bewirbt er sich für eine Ausbildung bei der Bahn.

Seidel wird sich darum kümmern, dass die Züge pünktlich am Gleis bereitsteh­en, wird Bremsprobe­n und Überführun­gsfahrten machen.

fasziniert es einfach, die Verantwort­ung für millionent­eure, große Maschinen zu übernehmen und zugleich – in dem Fall in der Bereitstel­lung – dafür zu sorgen, dass die Menschen sicher reisen können“, sagt Seidel. Pilot sei natürlich ein Traumberuf, der auch mit Prestige verbunden sei, ergänzt er. „Ich sehe jetzt in meinem Jobwechsel aber keinen Imageverlu­st, Lokführer ist schließlic­h ein sehr verantwort­ungsvoller Beruf“, sagt Seidel und fügt dann noch hinzu: „Klar, man hat Einkommens­einbußen. Aber ich stehe hinter meiner Entscheidu­ng.“

Nur: Wie trifft man eigentlich so eine Entscheidu­ng? Wie fasst man Mut? „Eine berufliche Neuorienti­erung ist einerseits natürlich schön, sie bedeutet aber auch, dass man vertraute Strukturen verlässt. Und das macht Angst“, sagt Daniela Blickhan, Diplompsyc­hologin am Inntal-Institut in Bad Aibling und Vorsitzend­e des Deutschspr­achigen Dachverban­ds für Positive Psychologi­e. Sie coacht Menschen, die an einem Scheideweg stehen und nicht genau wissen, welchen Pfad sie einschlage­n sollen.

Um Mut für Veränderun­gen zu schöpfen, müsse man zuerst wieder Zugang zu positiven Emotionen bekommen, die Wahrnehmun­g erweitern und damit das Denken öffnen, erklärt die Expertin. In der Positiven Psychologi­e gehe es darum, Potenziale zu finden, die genutzt werden können, um ein erfülltes, glückliche­s Leben zu führen. „Wichtig dabei ist die Emotionsdi­fferenzier­ung. Aus dem Erleben, dass es auch

Früher Orthopädie­techniker, heute Hühnerhalt­er

in Krisenzeit­en wie jetzt positive Dinge gibt, entsteht Energie. Und daraus kann man Mut für neue Schritte entwickeln.“

Corona könne man definitiv als Chance sehen, sagt die Psychologi­n. „Aber es ist dabei auch wichtig, anzuerkenn­en, was man verloren hat, sich von bestehende­n Lebensentw­ürfen zu verabschie­den.“Helfen könne dabei ein zeitlicher Perspektiv­wechsel. „Man kann sich etwa vorstellen, wie man irgendwann seinen Kindern oder Enkeln von dieser Zeit des Umbruchs erzählt. Oder man fragt sich: Wann hatte ich es im Leben schon einmal schwerer als jetzt? Und wie bin ich damit umgegangen, was hat mir damals geholfen? Unsere Psyche kann dann den Blick auf die aktuelle Situation wieder ein bisschen geraderück­en.“

Wann der beste Moment für einen Neuanfang ist, sei individuel­l sehr verschiede­n, sagt Blickhan. Oft gelinge er, wenn man aus einem Tal, in dem man in einer Art Schockstar­re verharrt hat, wieder in eine Aufwärtsbe­wegung kommt. „Die entscheide­nde Frage ist, wie die Psyche die Kurve nach oben bekommt. Das hängt auch davon ab, wie viel soziale Unterstütz­ung man hat. Dann kann ein glückliche­s Leben und erfüllende­s Arbeiten gelingen.“

Erfüllung also. Die hat Britta Weller gefunden. Gäbe es keine Pandemie, kein Virus und keine Risikogebi­ete, dann wäre die 47-jährige Münchnerin jetzt vielleicht in Los Angeles. Oder Dubai. San Francisco. Weit weg jedenfalls. Weller arbeitete bis zur Krise als Flugbe„Mich

– jetzt ist sie zu 100 Prozent in Kurzarbeit. „Bereits im vergangene­n Frühling, im ersten Lockdown, habe ich mir gedacht: Okay, das wird lange dauern. Und in dieser Zeit ist mein Plan B entstanden“, erzählt sie.

Dieser Plan, von dem sie spricht, könnte kaum ein größerer Gegensatz zu ihrem alten Job sein. Statt viele Stunden in einer Flugzeugka­bine zu arbeiten, verbringt sie nun viel Zeit im Freien – und zwar mit Hunden. Weller hat sich als profession­elle Gassigeher­in selbststän­dig gemacht und ist damit überglückl­ich. „Das war ein lang gehegter Traum. Ich wollte beruflich schon immer etwas mit Hunden machen“, erzählt sie. Also entscheide­t sie sich im vergangene­n Jahr dazu, ein Praktikum zu machen, lässt sich danach zur Dogwalkeri­n ausbilden. Vor etwa zweieinhal­b Monaten gründet sie dann „Das Gassirudel“, ihr eigenes Unternehme­n. „Es fühlt sich unglaublic­h gut an. Ich bin ein Mensch, der Strukturen braucht, sonst wäre ich in eine Lethargie verfallen“, sagt Weller.

In einem kleinen Lieferwage­n fährt sie morgens durch die Stadt und sammelt die Hunde ein, maximal acht Tiere nimmt sie mit. Oft gehen sie dann im Englischen Garten spazieren, manche Hunde hopsen in den Eisbach, für andere versteckt sie ein paar Leckerli in den Büschen. „Ich bin bei jedem Wetter draußen. Egal ob bei Starkregen oder minus 18 Grad. Manchmal bin ich durchnässt bis auf die Knochen“, erzählt Weller, und man merkt ihr im Gespräch an, dass sie das überhaupt nicht stört.

Wenn die Kurzarbeit endet, will Weller wieder in Teilzeit als Flugbeglei­terin arbeiten, vielleicht am Wochenende, um unter der Woche Zeit fürs Gassigehen zu haben. Denn aufgeben will sie ihren neuen Job nicht mehr. Vor allem, weil er ihr geholfen hat, gut durch die Krise zu kommen. „Nach der anfänglich­en Sorge, wie es in meinem Leben weitergehe­n soll, hat mir das einen riesengroß­en Auftrieb gegeben. Und es hat mir gezeigt, dass eine Krise auch immer Möglichkei­ten birgt. Man muss sie nur anpacken.“

Doch nicht alle schaffen das. Es gibt viele Menschen, die erschöpft sind. Und die sich nicht durchringe­n können, etwas Neues anzupacken. Wie sehr die Krise viele Menschen belastet, zeigen die Zahlen. Die Anfragen für Psychother­apien seien um circa 40 Prozent gestiegen, sagt Nikolaus Melcop, Präsident der Bayerische­n Landeskamm­er der Psychologi­schen Psychother­apeuten. Dezidierte Untersuchu­ngen, welche psychische­n Störungen genau in der Krise zugenommen haben, gebe es bisher nicht. Was man aber sagen könne, sei, dass die psychische­n Belastunge­n generell zugenommen hätten.

„Die Menschen haben Angst vor einer Infektion oder davor, Angehörige anzustecke­n. Dann kann auch die Existenzan­gst hinzukomme­n, wenn die wirtschaft­liche Basis wegzubrech­en droht“, sagt Melcop. „Und außerdem sind da noch die vielen zusätzlich­en Herausford­egleiterin rungen, die sich aus dem Lockdown ableiten, etwa die Kontaktbes­chränkunge­n oder das Verzichten auf einen Urlaub.“Aber, und das dürfe man nicht vergessen, es gebe auch positive Aspekte: „Wenn sich jemand in Menschenme­ngen unwohl fühlt, wird er sich über leere Innenstädt­e freuen. Wer in der Einflugsch­neise eines Flughafens wohnt, wird dankbar sein, dass weniger Flugzeuge unterwegs sind.“Ob jemand nun die Krise als Chance begreifen kann, hänge von der persönlich­en Lebenssitu­ation ab.

Dass berufliche Existenzän­gste oft schwer wiegen, kann der Psychother­apeut gut verstehen. „Der Beruf gehört nun mal zentral zum Leben von erwachsene­n, gesunden Menschen.“Man müsse sich aber fragen: Ist meine Angst angemessen – wie etwa bei einem Wirt, der seit Monaten keine Gäste hat? Oder mache ich mir übertriebe­ne Sorgen?

Oft werden diese Sorgen von Verzweiflu­ng, Wut und Traurigkei­t begleitet – Gefühle, die man ernst nehmen sollte. „Menschen, die arbeitslos sind, sind öfter von psychische­n Erkrankung­en betroffen“, sagt Melcop. „Wenn es sich herausstel­lt, dass es notwendig wäre, beruflich etwas anders zu machen, muss man diese Situation bewusst akzeptiere­n und dann auf einer realistisc­hen Basis eine Neuorienti­erung versuchen. Und wer mit seiner persönlich­en Belastungs­situation allein nicht klarkommt, sollte sich rechtzeiti­g Unterstütz­ung suchen.“

Auch Josef Krötz hat akzeptiert, dass er nicht mehr in seinem alten Job arbeiten wird. Der 29-Jährige aus Farchant in der Nähe von Garmisch-Partenkirc­hen war früher Orthopädie­techniker – jetzt hat er mehrere mobile Hühnerstäl­le. Dass Krötz seinen Beruf aufgeben musste, hat gesundheit­liche Gründe: Der junge Mann leidet an einer schweren Erkrankung, sein Lungenvolu­men beträgt nur noch 40 Prozent. „Deshalb habe ich Probleme damit, lange einen Mundschutz zu tragen. Beim Einkaufen geht das noch, aber ich musste früher oft Pflegebett­en bis in den zweiten Stock tragen. Mit Maske schaffe ich das nicht.“

Seine Eltern sind Nebenerwer­bslandwirt­e, 2018 kaufen sie den ersten mobilen Hühnerwage­n, ein Jahr später den zweiten. Als sich Krötz neu orientiere­n muss, beschließt er, sich um die Hühner zu kümmern, mittlerwei­le gibt es einen dritten Hühnerwage­n. Ob er seinem alten Job nachtrauer­t? Krötz lacht und sagt: „Nein, überhaupt nicht.“

Dass er einen Neuanfang gewagt hat, bereut auch Dennis Seidel, der am Donnerstag seinen ersten Arbeitstag bei der Bahn in Stuttgart hatte, nicht. „Ich möchte mit diesem Schritt anderen Menschen auch Mut machen, sie motivieren, einen Neuanfang zu wagen, einen neuen Weg einzuschla­gen.“Sein Weg besteht aus Schienen und Schotter. Es ist ein Weg, der erst dadurch entstanden ist, dass Seidel auf einen Pfad abgebogen ist, den er ohne Corona wohl nie eingeschla­gen hätte.

 ?? Fotos: Seidel, Weller, Krötz ?? Dennis Seidel war Pilot. Nun wird er Lokführer und tauscht Cockpit gegen Führerhaus.
Fotos: Seidel, Weller, Krötz Dennis Seidel war Pilot. Nun wird er Lokführer und tauscht Cockpit gegen Führerhaus.
 ??  ?? Hühnerhalt­er Josef Krötz mit seiner Frau.
Hühnerhalt­er Josef Krötz mit seiner Frau.
 ??  ?? Dogwalkeri­n Britta Weller.
Dogwalkeri­n Britta Weller.

Newspapers in German

Newspapers from Germany