Arbeiten bis 69?
Die führenden deutschen Wirtschaftsinstitute schlagen ein späteres Renteneintrittsalter vor, in Teilen von CDU/CSU fordert man Ähnliches. Gewerkschaften und Sozialverbände sind alarmiert
Berlin Es ist der Wandel in der Altersstruktur der Bevölkerung, der den führenden Wirtschaftsinstituten Deutschlands Sorge bereitet. Ein Großteil der Babyboomer – also der geburtenstarken Jahrgänge zwischen Mitte der 50er und Mitte der 60er Jahre – geht bald in Rente. Rund 13 Millionen Arbeitnehmer. „Deutschland steht in den kommenden Jahren ein folgenreicher demografischer Wandel bevor“, warnen die Forscher. „Mit dem Eintritt der Babyboomer in das Rentenalter wird die Erwerbsbevölkerung schrumpfen und der Anteil der Älteren deutlich steigen.“Dies könnte langfristig rund einen Prozentpunkt Wirtschaftswachstum pro Jahr kosten. Als eine Maßnahme schlagen die Institute in ihrer neuen Gemeinschaftsdiagnose an das Bundeswirtschaftsministerium ein höheres Renteneintrittsalter vor. Die Rede ist von der Rente mit 69 Jahren. Bisher beginnt der Ruhestand perspektivisch mit 67.
Um die Entwicklung auszugleichen, könnte die Bundesrepublik auch jährlich 400000 Zuwanderer ins Land lassen, das halten aber die Institute für unwahrscheinlich. So kommt die Erhöhung des Rentenins Spiel: „Eine Erhöhung des Renteneintrittsalters auf 69 Jahre würde die absehbare Reduktion des Potenzialwachstums um mehrere zehntel Prozentpunkte in den 2020er Jahren mildern.“Das Gutachten ist von renommierten Einrichtungen wie dem Ifo-Institut und dem Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung erstellt worden. Gebunden ist die Regierung an Gutachten nicht. Politiker denken aber schon in ähnliche Richtung.
Die Mittelstands- und Wirtschaftsunion (MIT) von CDU/CSU liebäugelt mit einem höheren Rentenalter. Die Politiker befürchten, dass die Kosten für die Rente aus dem Ruder laufen – zum einen wegen der demografischen Entwicklung, zum anderen, weil die Leistungen der Rentenkasse ausgeweitet wurden. Schon heute werde die gesetzliche Rente mit über 100 Milliarden Euro aus Bundesmitteln bezuschusst, nun käme die historische Neuverschuldung durch die Corona-Pandemie von über 200 Milliarden Euro hinzu. „Klar ist, dass es ein ,Weiter so‘ in der Rentenpolitik nicht geben darf“, heißt es in einem MIT-Beschluss.
Die Unionspolitiker fordern, das gesetzliche Renteneintrittsalter an die Entwicklung der Lebenserwartung zu koppeln: „Wenn die Lebenserwartung um ein Jahr steigt, soll die Regelaltersgrenze um ein Dreivierteljahr erhöht werden“, lautet der Vorstoß für die Zeit nach 2031. Die Rente mit 63 für langjährige Beitragszahler würden die Unionspolitiker am liebsten abschaffen: „Die Einführung der abschlagfreien Rente mit 63 war ein Fehler, da sie dem Arbeitsmarkt Fachkräfte und der Rentenversicherung Beitragszahler entzieht.“Dies klingt, als soll hier der Boden für die Zeit nach der Bundestagswahl bereitet werden. Sozialverbände und Gewerkschaften sind alarmiert.
In vielen Berufen sei es körperlich nicht möglich, bis 69 zu arbeiten, warnt Verena Bentele, Präsidentin des Sozialverbands VdK. Immer wieder komme aus der Wirtschaft der Vorschlag, das Renteneintrittsalter zu erhöhen. „Das wird es mit dem VdK nicht geben“, sagte sie unserer Redaktion. „Viele schaffen es schon heute nicht bis zur regulären Grenze. Was ist mit denjenigen, die sich in körperlich anstrengenden Berufen kaputt schuften? Die weeintrittsalters nigsten Pflegekräfte, Dachdecker oder Gebäudereinigerinnen halten bis zum 67. Lebensjahr durch. Wer körperlich hart arbeitet, lebt durchschnittlich auch kürzer.“
Der Deutsche Gewerkschaftsbund übt ebenfalls scharfe Kritik an einem späteren Rentenbeginn: „Diese falsche Forderung ignoriert vollkommen die Lebensrealität und die tatsächlichen Verhältnisse auf dem Arbeitsmarkt“, sagte DGBVorstandsmitglied Anja Piel unserer Redaktion. „Rund fünf Millionen Menschen weist die Arbeitsagentur als unterbeschäftigt aus. Diese Menschen haben entweder gar keine Arbeit oder wollen mehr Stunden arbeiten“, sagte sie. „Jede und jeder dieser fünf Millionen Menschen ist von Armut und unzureichenden Renten bedroht. Höhere Altersgrenzen lösen ihre Probleme nicht.“
Letztlich bedeuten die Pläne nichts anderes, als dass die Betroffenen weniger Rente bekommen, warnt der VdK: „Alle, die in einem schlecht bezahlten Beruf arbeiten, erwarten nur eine kleine Rente. Ein späterer Beginn des Ruhestands bedeutet für diese Menschen schlicht eine massive Rentenkürzung“, sagt Bentele. Das sieht auch DGB-Expertin Piel so: „Mittelstandsunion und Wirtschaftslobbyisten sollten den Menschen die Wahrheit sagen: Wenn es nach ihnen geht, dann sollen junge Menschen länger arbeiten, länger einzahlen und bekommen dafür aber weniger Rente raus“, kritisiert sie. „Das ist ungerecht. Von solchen Vorschlägen profitieren ausschließlich Unternehmer.“
Welche Lösungen schlagen die Kritiker vor? „Der VdK fordert, dass alle in die Rentenkasse einzahlen“, sagt Bentele. Ziel müsse ein stabiles Rentenniveau von über 50 Prozent sein. Der DGB wünscht sich eine breitere Finanzierung und will große Vermögen einbeziehen: „Die Gesellschaft wird dauerhaft mehr Geld für die Rente aufwenden müssen“, sagt Piel. „Wichtig ist: Wer wird dafür zur Kasse gebeten? Zahlen das Menschen privat aus eigener Tasche oder werden Arbeitgeber, Arbeitnehmer und Steuerzahler an den Kosten beteiligt?“, fragt sie. „Und wie sorgen wir endlich dafür, dass die wenigen großen Vermögen ihren Teil beitragen zur sozialen Sicherung für die vielen Erwerbstätigen, die unser Land am Laufen halten und den Wohlstand aller erarbeiten?“, meint Piel. „Die Anhebung des Rentenalters auf 69 oder gar 70, die die Lasten alleine auf die Arbeitnehmer abwälzt, ist da gewiss die falsche Antwort!“