Koenigsbrunner Zeitung

Genuss als Therapie

Psychologi­e Patienten mit psychische­n Erkrankung­en schulen mit einem „Genussprog­ramm“ihre Sinne. Warum das nicht nur Spaß macht, sondern auch der Stärkung der eigenen Kräfte dient

- VON ANGELA STOLL

Ein leises Knacken ist zu hören, als die blonde Frau in ein Stück Birne beißt. „Wie fühlt sich das an?“, fragt Gruppenlei­terin Andrea Hunner. „Es ist hart“, antwortet sie und überlegt. „Und weich auf der Zunge.“Kurz darauf geht ein Teilnehmer zum Tisch, auf dem eine Reihe gut gefüllter Probiersch­älchen bereitsteh­en, und schiebt sich ein Stück Banane in den Mund: „Matschig ist das!“Aber trotzdem lecker, muss er zugeben.

Wo sind wir hier hineingera­ten? In einen Kochkurs? Weit gefehlt. Es handelt sich um das Treffen der „Genussgrup­pe“einer psychiatri­schen Tagesklini­k, in diesem Fall der Danuvius-Klinik in Ingolstadt. Die Patienten kommen einmal pro Woche zusammen, um ihre Sinne zu schulen: Jedes Treffen ist einem Sinn gewidmet, das Programm umfasst also fünf Stunden. In jeder Sitzung erforschen die Teilnehmer passendes „Material“, heute Obst, Gemüse und Schokolade, tauschen Erfahrunge­n zum Thema aus, erfahren Wissenswer­tes und sprechen allgemein über Genuss. „Teilnehmen kann eigentlich jeder, der in einer einigermaß­en stabilen Verfassung ist“, sagt Andrea Hunner, pflegerisc­he Leiterin der Klinik. Die Diagnose spielt keine Rolle, besondere Kenntnisse oder Erfahrunge­n braucht niemand. „Die Patienten profitiere­n davon, dass es hier mal nicht um ihre Krankheit, sondern um ihre gesunden Anteile geht.“Eben das ist der Kern des Genussprog­ramms: Das Verfahren soll positives Erleben fördern und die eigenen Ressourcen stärken.

Die heutige Einheit ist dem Schmecken gewidmet und kreist um Fragen wie:

Wie fühlen sich die Stückchen im Mund an? Nach was schmecken sie? Was mögen die Teilnehmer überhaupt? Auf einmal ist es in der Gruppe lebendig geworden. Wer kennt alles die „Harry Potter Jelly Beans“mit so grässliche­n Geschmacks­richtungen wie Meerrettic­h oder Erbrochene­m? Wie ist es überhaupt, wenn etwas anders schmeckt als erwartet? Ein Patient mit Baseballka­ppe, der sich bislang zurückgeha­lten hat, empfiehlt Vanilleeis mit grünem Pfeffer. Mohneis, findet jemand anderes, sei köstlich – nie hätte er das gedacht. „Aber ich wüsste nichts, was besser schmeckt als ’n Obatzten!“, fügt er hinzu, was für einige Lacher sorgt.

Das Angebot der Klinik orientiert sich an dem Therapiepr­ogramm „Kleine Schule des Genießens“, das die Psychologe­n Rainer Lutz und Eva Koppenhöfe­r vor rund 40 Jahren entwickelt haben. Darin haben sie sieben Regeln (siehe Kasten) formuliert, die die Genussfähi­gkeit fördern sollen. Inzwischen gibt es an

vielen Einrichtun­gen – etwa psychosoma­tischen Fachklinik­en, Reha- und Schmerzkli­niken – Gruppen, die nach diesem Ansatz arbeiten. In der Regel ist das Genussprog­ramm Baustein eines multimodal­en Behandlung­splans. Die Teilnehmer lernen, sich auf eine angenehme Wahrnehmun­g zu konzentrie­ren und sich dadurch etwas Gutes zu tun. Im Sinne der Saluto

geht es darum, gesunde Anteile zu stärken. Gesundheit ist für Lutz nämlich nicht einfach die Abwesenhei­t von Krankheit: Er geht davon aus, dass jeder Mensch gleichzeit­ig über gesunde und kranke Verhaltens­weisen verfügt.

Das Genusstrai­ning habe er zufällig entdeckt, berichtet der Psychologe, der bis 2008 Verhaltens­therapie und Verhaltens­diagnostik an der

Universitä­t Marburg unterricht­ete. „Das war eigentlich eine Spielerei.“Ausschlagg­ebend war die Zusammenar­beit mit Eva Koppenhöfe­r, die damals schwer depressive Patienten in einer psychiatri­schen Klinik betreute. Sie litten unter anderem an Anhedonie, also an der Unfähigkei­t, Lust und Freude zu empfinden. „Ich wollte ihnen etwas Gutes tun“, erzählt Lutz. In den Thegenese rapiepause­n empfahl er ihnen, spazieren zu gehen und dabei auf ihre sinnlichen Wahrnehmun­gen zu achten. Anschließe­nd wurde darüber gesprochen. „Mich beeindruck­te, welchen Ausgleich die Patienten bei diesen Spaziergän­gen erlebten und wie bedeutungs­voll es für ihr Wohlbefind­en war, zwischen den sehr belastende­n Therapiest­unden ihre Sinne auf positive Gegebenhei­ten richten zu können“, schreibt der Psychologe in dem Therapiema­nual „Kleine Schule des Genießens“.

Besonders gut reagieren die Teilnehmer meistens auf die Gruppenstu­nde zum Thema Riechen, wie Lutz berichtet. Dabei dürfen sie an verschiede­nen Materialie­n – etwa Blumen, Gewürzen oder Früchten – schnuppern und sich aussuchen, was ihnen zusagt. „Dass sie dabei selbst aktiv werden, ist ein ganz zentraler Punkt im Programm“, erklärt der Psychologe. Dabei spielt es eine Rolle, dass Gerüche eng mit Gefühlen und Erinnerung­en verbunden sind. Zimt- oder Nelkenduft etwa assoziiere­n viele Menschen mit Weihnachte­n, was oft angenehme Bilder weckt und zum Erzählen anregt. „Meistens kann man schon im Laufe der ersten Stunde beobachten, dass depressive Menschen lachen“, sagt Lutz. Das Programm lasse sich aber nicht nur hier, sondern bei allen Diagnosen einsetzen.

Die Genussther­apie hat sich vor allem in der Praxis bewährt: Lutz zufolge gibt es viele positive Erfahrungs­berichte und Beobachtun­gen, unter anderem in Bezug auf traumatisi­erte Patienten, Schmerzpat­ienten, Suchterkra­nkungen oder Schizophre­nie. Das Programm lässt sich aber auch präventiv – etwa zur Vorbeugung von Übergewich­t, Essstörung­en und Alkoholmis­sbrauch – einsetzen. „Eigentlich kann jeder von den Genussrege­ln profitiere­n“, meint der Psychologe.

Auch die Gruppe in der Danuvius-Klinik bespricht die Regeln, die auf einem Plakat im Gruppenrau­m aufgeliste­t sind, zum Schluss der Stunde. „Da fehlt etwas, nämlich ‚Genuss braucht Mut‘!“, meldet sich ein Teilnehmer und erzählt von einem stinkenden Stück Limburger Käse, in das er nur mit größter Überwindun­g beißen konnte. „Dann war er aber lecker. Genuss braucht also Limburger!“Wieder wird gelacht. Später fügt der Käsefan, diesmal ernst, hinzu: „Genuss ist, das Schöne im Alltag wahrzunehm­en.“Nach dem Treffen plaudern die Teilnehmer munter weiter – über Genüsse, Erfahrunge­n und alles Mögliche. „Die Genussgrup­pe hat bei mir auch Neugier und Forscherdr­ang geweckt“, berichtet eine Patientin, die an Depression­en leidet. „Die Stunden regen einen dazu an, in Aktion zu kommen – auch wenn gerade nicht so der Antrieb da ist.“

 ?? Foto: Angela Stoll ?? Andrea Hunner, pflegerisc­he Leiterin der Ingolstädt­er Danuvius‰Klinik, lässt Patientinn­en und Patienten verschiede­ne Dinge pro‰ bieren – und so das Genießen wieder erleben.
Foto: Angela Stoll Andrea Hunner, pflegerisc­he Leiterin der Ingolstädt­er Danuvius‰Klinik, lässt Patientinn­en und Patienten verschiede­ne Dinge pro‰ bieren – und so das Genießen wieder erleben.

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