Bürger erzwangen den freien Rathausplatz
Stadtentwicklung Die zerstörte Börse sollte eigentlich durch ein Sparkassengebäude ersetzt werden. 5000 Menschen schlugen stattdessen eine andere Lösung vor / Serie (16 und Ende)
Die ungewöhnlichste städtebauliche Entwicklung in der Stadt hat wohl der Augsburger Rathausplatz. Er stellt einen Kompromiss dar: Das Areal sollte bebaut werden, doch die Bürger erzwangen den freien Blick auf das Rathaus. Der Rathausplatz in der heutigen Weite war von keinem Städteplaner so konzipiert. Seine Entstehung hatte der Bombenkrieg eingeleitet. Ohne historische Fotos ist nur mehr schwer vorstellbar, dass auf der Fläche des 3750 Quadratmeter großen gepflasterten Rathausplatzes einst ein Börsengebäude und ein Häuserkomplex standen.
Der Vorläufer des Rathausplatzes war jahrhundertelang ein bescheidener Dreiecksplatz um den Augustusbrunnen gegenüber dem Perlachturm. Perlachplatz hieß er, als Augsburg noch eine freie Reichsstadt war. Im Jahr 1806 wurde er von der bayerischen Verwaltung zu Ehren des damaligen Kronprinzen und späteren Königs Ludwig I. in Ludwigsplatz umbenannt. So hieß er offiziell bis 1972.
Welchen Namen die Pflasterfläche um den Augustusbrunnen in den Adressbüchern trug, war den Augsburgern und Augsburgerinnen egal. Für sie war es jahrhundertelang der Eiermarkt. Hier kauften sie Frischware ein, denn bis 1930 fand hier mehrmals in der Woche der Viktualienmarkt statt. Lebende und geschlachtete Gänse, Enten und Hühner gab es zu kaufen. Eier hatten fast alle aus dem bäuerlichen Umland kommenden Händlerinnen im Angebot. Als im Oktober 1930 der neue Stadtmarkt in Betrieb ging, endeten alle Straßenmärkte.
1881 kam dem Ludwigsplatz eine neue Funktion zu: Er wurde zum Hauptumsteigeplatz der in diesem Jahr eingeführten Pferdestraßenbahn. 1904 übernahm der Königsplatz die Rolle des Straßenbahnverkehrskreuzes. Der Ludwigsplatz war weitere 26 Jahre der uneingeschränkte Eiermarkt.
Der Bombenkrieg hinterließ dann eine völlig neue Situation: Das Rathaus und die Börse brannten aus. Das Gemäuer des Rathauses wurde bald nach Kriegsende für eine Wiederinstandsetzung gesichert. Die Börse dagegen blieb eine Ruine. Die fensterlosen Obergeschosse boten jahrelang einen gespenstischen Anblick, das erhaltene Erdgeschoss wurde in den Nachkriegsjahren von Geschäften genutzt.
Als klar wurde, dass ein Wiederaufbau des Börsengebäudes nicht infrage kam, trug man Ende 1950 die ausgebrannten oberen Etagen ab. Das Erdgeschoss bekam ein notdürftiges Flachdach. Die restlichen Häuserruinen auf dem heutigen Rathausplatz wurden völlig beseitigt. Frei gewordene Flächen in bester Zentrumsgeschäftslage blieben
ungenutzt: Darauf durften provisorische barackenähnliche „Geschäftsbauten“aufgestellt werden.
Über die Zukunft des einstigen Börsenareals gegenüber dem Rathaus gab es ab 1945 lediglich Gedankenspiele. Konkrete Vorschläge für eine Wiederbebauung lieferte 1954 ein Wettbewerb. Architekten reichten 162 Pläne und Modelle ein. Sie wurden im Mai 1956 in einer Ausstellung der Öffentlichkeit präsentiert. Die Vorschläge lösten kontroverse Diskussionen aus. Weder die Fachjuroren noch die Bevölkerung konnte sich für einen der Pläne erwärmen. Daraufhin erarbeitete Stadtbaurat Walther Schmidt auf der Grundlage des Wettbewerbs einen Entwurf. Er sah eine neue Zentrale der Stadtsparkasse vor. Sie sollte im Architekturstil der Nachkriegszeit einen Kontrast zum Holl‘schen Renaissance-Rathaus bilden.
Etwa die Hälfte der heutigen Pflasterfläche wäre überbaut worden. Am 5. November 1958 stimmte der Stadtrat den Plänen zu. Als künftiger Rathausplatz war eine kleine quadratische Fläche vorgesehen. Diese Platzgestaltung löste heftigen Widerspruch aus: Die Augsburger favorisierten die alte Dreiecksform des Ludwigsplatzes. Die
drehten sich nicht um die Tatsache, dass die Ruinenfläche wieder bebaut werden sollte, sondern nur um die Platzgröße und die Platzierung der Neubauten.
Im April 1959 kam erstmals der Vorschlag ins Gespräch, die Fläche zwischen Rathaus und PhilippineWelser-Straße solle so lange unbebaut bleiben, bis eine allgemein akzeptierte Bebauung gefunden war. Damit war die neue Stadtsparkassenzentrale gegenüber dem Rathaus keineswegs zu den Akten gelegt. Die Baupläne wurden nur geändert. Im September 1959 lagen neue Entwürfe vor. Die Stadtregierung war aus wirtschaftlichen Erwägungen fest entschlossen, diesen Gebäudekomplex zu genehmigen. Die Stadtsparkasse kaufte am 25. August 1960 den Bauplatz, im Oktober 1960 begannen die Arbeiten. Es ging alles sehr zügig: Der Augustusbrunnen wurde abgebaut, die Börsen-Restruine und die provisorischen Verkaufsbaracken entsorgt. Bagger hoben eine riesige Baugrube aus.
Der Bretterzaun um den Bauplatz war als Sichtschutz nicht hoch genug: Aus der Distanz war ein freier Blick auf das Rathaus und den Perlachturm möglich. Dies löste einen allgemeinen Aha-Effekt aus. Am 26. November 1960 forderte die Augsburger Allgemeine dazu auf, den unnicht
gewöhnlichen Anblick zu genießen. Das blieb nicht ohne Folgen: Ein Komitee „Freier Rathausplatz“wurde gegründet und startete eine Bürgerbefragung. „Wir halten es für unnötig und falsch, den gegebenen großzügigen Gesamtblick auf Rathaus und Perlachturm jetzt einzuschränken und in den Platz hinein zu bauen. Nur die Südseite verlangt eine bauliche Neugestaltung“, hieß es auf der Abstimmungskarte. Dieser Meinung waren 55.056 Rücksender, nur 1350 votierten für die Weiterführung des SparkassenNeubaus.
Das eindeutige Bürgervotum führte zum Stopp der Bauarbeiten. Die Aktion „Freier Rathausplatz“ließ sieben Pläne und Modelle als Bebauungsalternativen erarbeiten. Bei allen blieb ein Weitblick auf das Rathaus erhalten. 1962 wurden neue amtliche Bauvorschläge in einer Ausstellung präsentiert. 12.000 Besucher interessierten sich dafür, doch die Zustimmung zu diesen Bauvorschlägen hielt sich in Grenzen. Daraufhin gab die Stadt bei zwei Schweizer Stadtplanern und zwei deutschen Experten Gutachten in Auftrag. Sie erachteten die Randbebauung eines künftigen Rathausplatzes aus optischen Gründen als notwendig, lehnten aber eine rein an der Rendite orientierte PlatzverDiskussionen
bauung ab. Der Stadtrat hatte sich in eine Zwickmühle manövriert: Er konnte weder den Bürgerwillen noch neutrale Experten ignorieren. Im Oktober 1962 wurde ein Kompromiss beschlossen: Das Areal bleibt „vorläufig“unbebaut, als Übergangslösung wird ein ansprechender Platz gestaltet. Bereits im November 1962 begann die Verfüllung der Baugrube. Der Bau einer Tiefgarage in der Baugrube bot sich zwar an, doch diese hätte eine spätere Bebauung behindert. Im Oktober 1963 war die Fläche gepflastert, zwei Monate später fand darauf der Christkindlesmarkt statt.
Den Namen „Rathausplatz“bekam Augsburgs seither vielfältig genutzter Zentrumsplatz erst im Oktober 1972. Das Thema Bebauung wurde zwar von Architekten weiterverfolgt, doch Stadtpolitiker wollten davon nichts mehr hören. Die Konsequenz: Die Stadt kaufte den Bauplatz für eine Sparkassenzentrale zurück.
Info Die Serie „Stadtentwicklung“zeigt auf, wie sich Augsburg in den ver gangenen 200 Jahren verkehrsmäßig wandelte. Abbruchaktionen riesigen Ausmaßes schufen die Voraussetzung für neue Straßen und Bauwerke auf frei gelegten Trassen. Mit der heutigen Folge endet die Serie.