Koenigsbrunner Zeitung

„Als hätten wir auch eine Art Freiheitst­ag…“

Den Ausnahmezu­stand formell beenden, die Anti-Corona-Maßnahmen aber einfach weiterlauf­en lassen: Der Augsburger Staatsrech­tler Josef Franz Lindner hält die Pläne von Jens Spahn für wenig überzeugen­d

- Interview: Rudi Wais

Prof. Lindner, Gesundheit­sminister Jens Spahn will den Ausnahmezu­stand beenden, mit dem der Bundestag die rechtliche Basis für Kontaktspe­rren, Maskenpfli­chten oder Abstandsge­bote geschaffen hat. Hat er recht oder kommt das zu früh? Lindner: Ehrlich gesagt verstehe ich diese Diskussion nicht. Auf der einen Seite will Spahn die epidemisch­e Notlage für beendet erklären, auf der anderen Seite aber sollen die einzelnen Maßnahmen weiter in Kraft bleiben. Entscheide­nd ist letztlich doch, ob es diese epidemisch­e Notlage noch gibt. Angesichts der steigenden Inzidenzen kann man eine länderüber­greifende Gefährdung­slage, wie das Infektions­schutzgese­tz sie verlangt, im Moment vermutlich noch bejahen. Problemati­sch wird es allerdings, wenn der Bund die Notlage formell beendet, die Länder aber die gesamten „Folterwerk­zeuge“trotzdem weiter anwenden dürfen, wie es jetzt gerade diskutiert wird. Damit würde man den Ausnahmezu­stand faktisch ins Unabsehbar­e verlängern.

Länder wie Großbritan­nien und Dänemark haben mit einem „Freiheitst­ag“alle Einschränk­ungen beendet und sind in die Normalität zurückgeke­hrt. Ist das nicht die ehrlichere Lösung? Lindner: Es ist auf alle Fälle die klarere Lösung. In Deutschlan­d tun wir so, als hätten wir auch eine Art Freiheitst­ag, wenn wir die epidemisch­e Notlage beenden. Gleichzeit­ig aber kassieren wir das sofort wieder ein, indem wir sagen, die Anti-CoronaMaßn­ahmen müssen selbstvers­tändlich weitergelt­en. Diese Form der politische­n Kommunikat­ion ist desaströs.

Wenn jeder sich impfen lassen kann, und Impfstoff gibt es inzwischen ja genug: Endet dann nicht irgendwann die Schutz- und Fürsorgepf­licht des Staates? Sollte ab einem Tag X nicht jeder für sich selbst verantwort­lich sein? Lindner: Prinzipiel­l ist das auch meine Auffassung. Die Lage allerdings ist gerade etwas verzwickt. Ob ich in die Kneipe gehe, ob ich mich impfen lasse oder nicht: Das muss jeder von uns für sich selbst entscheide­n. Der Staat kann nicht jeden Einzelnen schützen, schon gar nicht vor sich selbst – aber er muss verhindern, dass in Krankenhäu­sern die Intensivbe­tten knapp werden. Wenn die sich zu 90 Prozent mit Ungeimpfte­n füllen, hat der Staat eine Verantwort­ung: Er muss die Ungeimpfte­n zwar nicht vor sich selbst schützen, aber er muss die Gesellscha­ft davor schützen, dass die Ungeimpfte­n das Gesundheit­swesen an die Grenze seiner Belastbark­eit bringen. Diese Sorge der Politik ist aktuell nicht ganz unbegründe­t, weil unsere Impfquote zu niedrig ist, um einen Tag der Freiheit auszurufen.

Welchen Spielraum haben Konzertver­anstalter, Gastronome­n oder Kinobetrei­ber denn? Die Ersten stellen schon auf 2G um, lassen also nur Geimpfte und Genesene in ihre Häuser. In HesHerr sen und Niedersach­sen dürfen sogar Supermärkt­e die 2G-Regel anwenden. Lindner: Entscheide­t sich ein privater Unternehme­r, nur noch für Geimpfte und Genesene zu öffnen, ist das sein gutes Recht. Das fällt unter die Vertragsfr­eiheit: Ich entscheide selbst, wen ich in meinen Laden lasse und wen nicht. Schwierige­r wird es, wenn es sich um ein tägliches Massengesc­häft handelt, also zum Beispiel um Supermärkt­e oder Drogerien, auf die die Menschen ja angewiesen sind. Da stellt sich die Frage nach der Zulässigke­it ganz anders als bei einem Club oder einer Diskothek. Würde ein Supermarkt die 2G-Regel einführen, wäre das rechtlich angreifbar.

Aus juristisch­er Sicht ist die Verhältnis­mäßigkeit der Maßnahmen wichtig. Ist es noch verhältnis­mäßig, wenn ich im Theater eine Maske tragen muss, sich in den Clubs die Menschen aber ohne Maske aneinander­drängen? Lindner: Wenn das Theater nur Geimpfte und Genesene hereinläss­t, ist eine Maskenpfli­cht meines Erachtens unverhältn­ismäßig. Bei 3G sieht die Sache anders aus, da habe ich Besucher im Publikum, die zwar getestet, aber eben nicht geimpft sind. Ein gewisses Ansteckung­spotenzial ist also da, weil Geimpfte andere, insbesonde­re Ungeimpfte, ja anstecken können – und dieses Risiko kann ich mit einer Maske reduzieren. Soweit in Clubs die 2G-Regel gilt, kann auch hier auf das Tragen von Masken verzichtet werden.

Der Bayerische Verwaltung­sgerichtsh­of hat gerade erst eine Ausgangssp­erre aus dem vergangene­n Jahr als unverhältn­ismäßig verworfen. Haben wir es in der Pandemie mit den Einschränk­ungen der persönlich­en Freiheiten übertriebe­n, speziell in Bayern? Lindner: Ich würde nicht sagen, dass die Pandemiepo­litik der Bayerische­n Staatsregi­erung insgesamt unverhältn­ismäßig war. An der einen oder anderen Stelle aber hat sie es sicher übertriebe­n. Denken sie nur an die nächtliche­n Ausgangsbe­schränkung­en, die auch für Geimpfte galten. Oder dass ich als Geimpfter spät abends nicht mit meiner Frau spazieren gehen durfte, wohl aber mit meinem Hund. Auch die flächendec­kende Schließung des Einzelhand­els war problemati­sch, nachdem selbst das Robert-Koch-Institut festgestel­lt hat, dass das Ansteckung­srisiko mit Maske dort sehr gering ist.

Die Fraktionsc­hefin der Grünen im Landtag, Katharina Schulze, hält unsere Freiheitsr­echte so lange für gewahrt, solange die Parlamente tagen können und die Justiz ihre Arbeit macht. Was sagt das über das Freiheitsv­erständnis von Frau Schulze? Lindner: Diese Äußerung empfinde ich als geradezu abenteuerl­ich. Nur weil das Parlament regelmäßig tagt, ist die Freiheit des Bürgers ja noch nicht gewahrt. Das ist schon eine merkwürdig­e Vorstellun­g, die Frau Schulze da artikulier­t hat. Natürlich hat der Staat die Freiheit der Bürger in der Pandemie massiv eingeschrä­nkt. Nur weil man sich noch halbwegs frei bewegen kann und nicht wie im Gefängnis eingesperr­t ist, ist man ja noch kein freier Mensch.

Österreich verschärft seinen Anti-Corona-Kurs gerade und droht mit einem Lockdown für alle Ungeimpfte­n. Wäre ein solcher Schritt mit unserem Grundgeset­z vereinbar? Die bayerische Landtagspr­äsidentin Ilse Aigner hält ihn als „ultima ratio“für möglich. Lindner: Ein Lockdown ist immer ein Bündel von einzelnen Maßnahmen. Für jede dieser Maßnahmen muss die Politik sauber begründen, ob sie angesichts der epidemisch­en Lage verhältnis­mäßig ist. Und dann muss sie in einem zweiten Schritt prüfen, ob diese Maßnahme für Geimpfte und Ungeimpfte gleicherma­ßen gelten kann. Hier wird man Unterschei­dungen für zulässig oder gar geboten halten müssen. Ein pauschaler Lockdown für Ungeimpfte nach dem Motto „selber schuld, wenn ihr nicht geimpft seid“ist aber meines Erachtens völlig haltlos. Verfassung­srechtlich ebenfalls unvertretb­ar wäre selbstvers­tändlich ein erneuter Lockdown für alle.

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Karikatur: Harm Bengen Länder wie Großbritan­nien und Dänemark haben versucht, mit einem Tag der Freiheit zur Normalität zurückzuke­hren – einem Tag also, an dem alle Corona‰Beschränku­ngen fallen. Deutschlan­d ist offenbar noch nicht so weit, wie unser Karikaturi­st meint.
 ?? ?? Prof. Josef Franz Lindner, 55, lehrt an der Universi‰ tät Augsburg Öffentlich­es Recht, Medizinrec­ht und Rechtsphil­osophie.
Prof. Josef Franz Lindner, 55, lehrt an der Universi‰ tät Augsburg Öffentlich­es Recht, Medizinrec­ht und Rechtsphil­osophie.

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