Koenigsbrunner Zeitung

Schäubles Mahnung

Parlament Bei der ersten Sitzung des neuen Bundestage­s redet der Alterspräs­ident den Abgeordnet­en ins Gewissen, während die Kanzlerin schon auf der Ehrentribü­ne sitzt. Zuerst aber sorgt einmal mehr die AfD für Empörung

- VON CHRISTIAN GRIMM

Berlin Zur Feierstund­e der Demokratie ist Angela Merkel (CDU) nur noch Zaungast. Bei der Eröffnungs­sitzung des frisch gewählten Bundestage­s sitzt sie nicht mehr unten im Gewusel unter den Parlamenta­riern, die das Volk vertreten. Sie sitzt an diesem Dienstag oben auf der Ehrentribü­ne des Hohen Hauses neben Bundespräs­ident Frank-Walter Steinmeier. Beide tauschen sich freundlich aus, blicken staatsmänn­isch in den Plenarsaal. Mit der Macht, um die es in der Politik immer geht, haben sie nichts oder nichts mehr zu tun. Steinmeier qua Amt und Merkel qua Ruhestand.

Die prägende Gestalt der deutschen Politik der vergangene­n anderthalb Jahrzehnte zieht sich Schritt für Schritt aus der Politik zurück. Eine Epoche endet, Merkel gehört dem neuen Parlament nicht mehr an. Im Neuen steckt zunächst aber auch viel Altes. Bevor Alterspräs­ident

Wolfgang Schäuble (CDU) den 736 Abgeordnet­en Nachdenkli­ches mit auf den Weg gibt, setzt sich der Streit der abgelaufen­en Wahlperiod­e fort.

Schon nach wenigen Minuten ist die Debatte bei der Weimarer Republik und den Nationalso­zialisten angelangt, wütende Zwischenru­fe schallen durch die engen Reihen der Abgeordnet­en. Was war geschehen? Die AfD hatte beantragt, zur alten Tradition zurückzuke­hren, wonach der älteste Abgeordnet­e die konstituie­rende Sitzung nach der Wahl leitet. Das wäre Alexander Gauland gewesen von der AfD. Bernd Baumann führt aus, dass nur die Nazis von dem Brauch abgewichen waren. „Soll das Ihr Vorbild sein?“, rief er und erntete damit Empörung. Wie so oft geschah das, was dazugehört, seit die AfD vor vier Jahren in den Bundestag eingezogen war. Die anderen springen über ihr Stöckchen: 2017 hatten die anderen Parteien die bewährte Regel umgeschrie­ben, um Gauland zu verhindern.

Seitdem wird der Abgeordnet­e mit der längsten Zugehörigk­eit zum Bundestag Alterspräs­ident. Das ist Wolfgang Schäuble, 79, der seit knapp 49 Jahren Abgeordnet­er ist. Der Badener hat den Ruf eines Weisen, der über den Tag hinausdenk­t und das Gebälk der Demokratie mit klugen Gedanken stützen kann. Sein Ruf hat aber gelitten, weil er im

beinharten Machtkampf zwischen Armin Laschet und Markus Söder um die Kanzlerkan­didatur den Ausschlag für Laschet gab. Schäuble hat einen großen Anteil an der Niederlage von CDU und CSU, die auch seine persönlich­e ist.

Er hätte zu gerne nicht nur die Eröffnungs­sitzung als Alterspräs­ident geleitet, sondern als Bundestags­präsident weiter dem Parlament vorgestand­en. Daraus wird nichts. Und so ist es auch für Schäuble ein Abschied von der großen Bühne, die sein Leben ist. Bevor er auf den Status eines Hinterbänk­lers abrutscht, den man gelegentli­ch nach Rat fragen wird, gelingt ihm noch ein Kabinettst­ückchen. In einer ruhigen

vom Blatt abgelesene­n Rede erinnert er die Parlamenta­rier an Anstand und Verantwort­ung und dass sie den Wählerinne­n und Wählern verantwort­lich sind. Das wäre Politik-Prosa geblieben, wenn er dabei nicht einige Schmerzpun­kte benannt hätte.

Ohne Umschweife erklärt er den anderen 735 Abgeordnet­en, dass es ihrer zu viele gibt und er den Bundestag für aufgebläht hält. Er spricht von der bitteren Erfahrung, dass die Wahlrechts­reform keine wurde, die ihren Namen verdient, und appelliert­e an das Haus, sich selbst zu verkleiner­n. „Sie duldet ersichtlic­h keinen Aufschub“, meinte er.

Danach widmete er sich dem

Kampf gegen das Coronaviru­s, der die Freiheit des Einzelnen so stark eingeschrä­nkt hat wie nichts anderes seit dem Kriege. Er wollte die Abgeordnet­en nicht aus der Verantwort­ung entlassen, selbst die Entscheidu­ngen zu treffen und sich nicht hinter Wissenscha­ftlern zu verstecken. „Wissenscha­ftliche Erkenntnis ist noch keine Politik“, sagte der 79-Jährige. Das gleiche Diktum wandte er auf den Kampf gegen den Klimawande­l an.

Er ging auf die seit der Wahl energisch diskutiert­e Frage ein, ob der Bundestag eigentlich das Volk repräsenti­eren könne, wo deutlich mehr Männer im Parlament Sitz und Stimme haben und deutlich mehr

Akademiker als Arbeiter. Schäuble glaubt nicht daran, dass der Bundestag ein maßstabsge­treuer Nachbau des Volkes sein muss. „Bei wem fangen wir an, bei wem hören wir auf?“, fragte er rhetorisch nach der vermeintli­ch richtigen Repräsenta­tion einzelner Gruppen. „Der Bundestag wird nie ein exaktes Spiegelbil­d der Gesellscha­ft sein.“

Bevor er seine Rede beendet, bittet er in einem persönlich­en Wort um Respekt für seine zur Wahl stehende Nachfolger­in Bärbel Bas von der SPD als Parlaments­präsidenti­n. „Am Verhalten jedes Einzelnen von uns hängt die Würde dieses Hauses“, sagt der altersweis­e Mann der CDU. Im Saal wird dies auch als ein Wink an seine eigene Partei verstanden, aus deren Reihen sich Abgeordnet­e während der Corona-Krise bei der Beschaffun­g von Masken bereichert hatten. Als Schäuble schließt, erheben sich die Abgeordnet­en und spenden Beifall. Auch die Vertreter der AfD erheben sich für

Schäuble hält Bundestag für „aufgebläht“

Bärbel Bas hat im „richtigen Moment Ja gesagt“

den, den sie noch vor der Sitzung verhindern wollten. Über Schäubles Gesicht huscht ein feines Lächeln.

Bärbel Bas bedankt sich bei ihm. „Sie haben sich um unsere parlamenta­rische Demokratie verdient gemacht“, lobt die 53-Jährige, die nach Annemarie Renger (SPD) und Rita Süßmuth (CDU) als dritte Frau ins zweithöchs­te Staatsamt gewählt wird. Sie erhält 576 von 724 abgegebene­n Stimmen. Ihr stehen als neue Vize Yvonne Magwas (CDU), Aydan Özoguz (SPD) sowie die wiedergewä­hlten Claudia Roth (Grüne) Petra Pau (Linke) und Wolfgang Kubicki (FDP) zur Seite. AfD-Kandidat Michael Kaufmann fiel bei der Wahl zum Präsidium durch.

Bas, studierte Personalma­nagerin, will sich dafür starkmache­n, dass sich mehr Frauen in die Politik wagen und es auch bis nach oben schaffen. Damit könnte sie auch ihre eigene Geschichte korrigiere­n. Denn Parlaments­präsidenti­n wurde sie nur, weil die SPD nicht alle zu besetzende­n Spitzenämt­er mit Männern bestücken wollte. „Ich habe nicht selbst den Finger gehoben, das stimmt, aber ich habe im richtigen Moment Ja gesagt“, sagt die Frau aus dem Ruhrpott mit einem guten Schuss Selbstiron­ie. Der wahrschein­lich nächste Kanzler Olaf Scholz (SPD) sortiert in der Zwischenze­it die Blumensträ­uße, die sie überreicht bekommen hat.

 ?? Foto: Michael Kappeler, dpa ?? Wolfgang Schäuble verlässt die große Bühne: Der langjährig­e Bundestags­präsident hat das zweithöchs­te Amt im Staat an Bärbel Bas von der SPD übergeben.
Foto: Michael Kappeler, dpa Wolfgang Schäuble verlässt die große Bühne: Der langjährig­e Bundestags­präsident hat das zweithöchs­te Amt im Staat an Bärbel Bas von der SPD übergeben.

Newspapers in German

Newspapers from Germany