Schäubles Mahnung
Parlament Bei der ersten Sitzung des neuen Bundestages redet der Alterspräsident den Abgeordneten ins Gewissen, während die Kanzlerin schon auf der Ehrentribüne sitzt. Zuerst aber sorgt einmal mehr die AfD für Empörung
Berlin Zur Feierstunde der Demokratie ist Angela Merkel (CDU) nur noch Zaungast. Bei der Eröffnungssitzung des frisch gewählten Bundestages sitzt sie nicht mehr unten im Gewusel unter den Parlamentariern, die das Volk vertreten. Sie sitzt an diesem Dienstag oben auf der Ehrentribüne des Hohen Hauses neben Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier. Beide tauschen sich freundlich aus, blicken staatsmännisch in den Plenarsaal. Mit der Macht, um die es in der Politik immer geht, haben sie nichts oder nichts mehr zu tun. Steinmeier qua Amt und Merkel qua Ruhestand.
Die prägende Gestalt der deutschen Politik der vergangenen anderthalb Jahrzehnte zieht sich Schritt für Schritt aus der Politik zurück. Eine Epoche endet, Merkel gehört dem neuen Parlament nicht mehr an. Im Neuen steckt zunächst aber auch viel Altes. Bevor Alterspräsident
Wolfgang Schäuble (CDU) den 736 Abgeordneten Nachdenkliches mit auf den Weg gibt, setzt sich der Streit der abgelaufenen Wahlperiode fort.
Schon nach wenigen Minuten ist die Debatte bei der Weimarer Republik und den Nationalsozialisten angelangt, wütende Zwischenrufe schallen durch die engen Reihen der Abgeordneten. Was war geschehen? Die AfD hatte beantragt, zur alten Tradition zurückzukehren, wonach der älteste Abgeordnete die konstituierende Sitzung nach der Wahl leitet. Das wäre Alexander Gauland gewesen von der AfD. Bernd Baumann führt aus, dass nur die Nazis von dem Brauch abgewichen waren. „Soll das Ihr Vorbild sein?“, rief er und erntete damit Empörung. Wie so oft geschah das, was dazugehört, seit die AfD vor vier Jahren in den Bundestag eingezogen war. Die anderen springen über ihr Stöckchen: 2017 hatten die anderen Parteien die bewährte Regel umgeschrieben, um Gauland zu verhindern.
Seitdem wird der Abgeordnete mit der längsten Zugehörigkeit zum Bundestag Alterspräsident. Das ist Wolfgang Schäuble, 79, der seit knapp 49 Jahren Abgeordneter ist. Der Badener hat den Ruf eines Weisen, der über den Tag hinausdenkt und das Gebälk der Demokratie mit klugen Gedanken stützen kann. Sein Ruf hat aber gelitten, weil er im
beinharten Machtkampf zwischen Armin Laschet und Markus Söder um die Kanzlerkandidatur den Ausschlag für Laschet gab. Schäuble hat einen großen Anteil an der Niederlage von CDU und CSU, die auch seine persönliche ist.
Er hätte zu gerne nicht nur die Eröffnungssitzung als Alterspräsident geleitet, sondern als Bundestagspräsident weiter dem Parlament vorgestanden. Daraus wird nichts. Und so ist es auch für Schäuble ein Abschied von der großen Bühne, die sein Leben ist. Bevor er auf den Status eines Hinterbänklers abrutscht, den man gelegentlich nach Rat fragen wird, gelingt ihm noch ein Kabinettstückchen. In einer ruhigen
vom Blatt abgelesenen Rede erinnert er die Parlamentarier an Anstand und Verantwortung und dass sie den Wählerinnen und Wählern verantwortlich sind. Das wäre Politik-Prosa geblieben, wenn er dabei nicht einige Schmerzpunkte benannt hätte.
Ohne Umschweife erklärt er den anderen 735 Abgeordneten, dass es ihrer zu viele gibt und er den Bundestag für aufgebläht hält. Er spricht von der bitteren Erfahrung, dass die Wahlrechtsreform keine wurde, die ihren Namen verdient, und appellierte an das Haus, sich selbst zu verkleinern. „Sie duldet ersichtlich keinen Aufschub“, meinte er.
Danach widmete er sich dem
Kampf gegen das Coronavirus, der die Freiheit des Einzelnen so stark eingeschränkt hat wie nichts anderes seit dem Kriege. Er wollte die Abgeordneten nicht aus der Verantwortung entlassen, selbst die Entscheidungen zu treffen und sich nicht hinter Wissenschaftlern zu verstecken. „Wissenschaftliche Erkenntnis ist noch keine Politik“, sagte der 79-Jährige. Das gleiche Diktum wandte er auf den Kampf gegen den Klimawandel an.
Er ging auf die seit der Wahl energisch diskutierte Frage ein, ob der Bundestag eigentlich das Volk repräsentieren könne, wo deutlich mehr Männer im Parlament Sitz und Stimme haben und deutlich mehr
Akademiker als Arbeiter. Schäuble glaubt nicht daran, dass der Bundestag ein maßstabsgetreuer Nachbau des Volkes sein muss. „Bei wem fangen wir an, bei wem hören wir auf?“, fragte er rhetorisch nach der vermeintlich richtigen Repräsentation einzelner Gruppen. „Der Bundestag wird nie ein exaktes Spiegelbild der Gesellschaft sein.“
Bevor er seine Rede beendet, bittet er in einem persönlichen Wort um Respekt für seine zur Wahl stehende Nachfolgerin Bärbel Bas von der SPD als Parlamentspräsidentin. „Am Verhalten jedes Einzelnen von uns hängt die Würde dieses Hauses“, sagt der altersweise Mann der CDU. Im Saal wird dies auch als ein Wink an seine eigene Partei verstanden, aus deren Reihen sich Abgeordnete während der Corona-Krise bei der Beschaffung von Masken bereichert hatten. Als Schäuble schließt, erheben sich die Abgeordneten und spenden Beifall. Auch die Vertreter der AfD erheben sich für
Schäuble hält Bundestag für „aufgebläht“
Bärbel Bas hat im „richtigen Moment Ja gesagt“
den, den sie noch vor der Sitzung verhindern wollten. Über Schäubles Gesicht huscht ein feines Lächeln.
Bärbel Bas bedankt sich bei ihm. „Sie haben sich um unsere parlamentarische Demokratie verdient gemacht“, lobt die 53-Jährige, die nach Annemarie Renger (SPD) und Rita Süßmuth (CDU) als dritte Frau ins zweithöchste Staatsamt gewählt wird. Sie erhält 576 von 724 abgegebenen Stimmen. Ihr stehen als neue Vize Yvonne Magwas (CDU), Aydan Özoguz (SPD) sowie die wiedergewählten Claudia Roth (Grüne) Petra Pau (Linke) und Wolfgang Kubicki (FDP) zur Seite. AfD-Kandidat Michael Kaufmann fiel bei der Wahl zum Präsidium durch.
Bas, studierte Personalmanagerin, will sich dafür starkmachen, dass sich mehr Frauen in die Politik wagen und es auch bis nach oben schaffen. Damit könnte sie auch ihre eigene Geschichte korrigieren. Denn Parlamentspräsidentin wurde sie nur, weil die SPD nicht alle zu besetzenden Spitzenämter mit Männern bestücken wollte. „Ich habe nicht selbst den Finger gehoben, das stimmt, aber ich habe im richtigen Moment Ja gesagt“, sagt die Frau aus dem Ruhrpott mit einem guten Schuss Selbstironie. Der wahrscheinlich nächste Kanzler Olaf Scholz (SPD) sortiert in der Zwischenzeit die Blumensträuße, die sie überreicht bekommen hat.