Koenigsbrunner Zeitung

Das macht sie doch mit links

Paraclimbi­ng Corinna Wimmer hat einen verkürzten Arm und Höhenangst. Das hält die 26-jährige Medizinstu­dentin aber nicht davon ab, auf internatio­nalen Wettkämpfe­n zu klettern

- VON QUIRIN HÖNIG

München Schon der Einstieg ist komplizier­t. Corinna Wimmer legt ihren verkürzten rechten Arm in den weißen Griff, den sie auch mit ihrer Linken hält. Die Tritte der Boulder-Route sind schmal und die Wand ist überhängen­d. Sie zieht das rechte Bein nach oben. Mit ihrer rechten Ferse hakt sie sich an einem höheren Griff ein. Kurz hängt sie dort, ehe sie mit der linken Hand nach dem nächsten Griff greift. Aber sie kann sich nicht halten und steht einen Moment später wieder auf der Matte. Sie geht einen Schritt zurück, mustert kurz die Route und versucht eine andere Variante. Diesmal klappt es, sie überwindet den schwierige­n unteren Teil und erreicht den obersten Griff. Freude, eine kurze Pause und sie sucht nach der nächsten Route.

„Es ist die Kombinatio­n aus dem körperlich­en Part und dem Denken, die beim Klettern Spaß macht“, sagt die 26-Jährige. Jede Route sei wie ein Rätsel, das man lösen müsse. Allerdings sind diese Rätsel für Wimmer

Jede Route ist wie ein Rätsel

anders als für die meisten Kletterinn­en und Kletterer. Sie hat nur ihre linke Hand, um sich festzuhalt­en, ihr rechter Arm endet kurz nach dem Ellenbogen­gelenk. Sie ist eine Paraclimbe­rin, eine Sportklett­erin mit Behinderun­g.

Während Wimmers eine Einschränk­ung offensicht­lich ist, ist die andere eher unsichtbar. Sie hat Höhenangst. „Ich würde sagen, dass mich die Höhenangst beim Klettern mehr einschränk­t als der Arm“, erzählt sie. Beim Klettern merkt sie es daran, dass ihr Bewegungen, welche sie kurz über dem Boden ohne Probleme macht, schwerer fallen, je höher sie sich befindet. Dann brauche jede weitere Bewegung große Überwindun­g. In solchen Situatione­n versuche sie sich auf ihre Atmung zu konzentrie­ren und den Spaß, den sie beim Klettern habe. „Wenn es eine superspann­ende Route ist, vergesse ich, dass ich fünf Meter über dem Boden bin“, erzählt die Münchnerin. Es gebe bessere und schlechter­e Tage. Manchmal muss sie kurz vor dem obersten Griff aufhören. Mit dem Klettern habe sie angefangen, um ihre Höhenangst zu überwinden.

Wimmer wurde mit ihrer Behinderun­g geboren. Aufgewachs­en in Bad Feilnbach im Landkreis Rosenheim nahe der Alpen, war sie in ihrer Kindheit und Jugend viel in den Bergen unterwegs. Gezielt zum Klettern sei sie da aber noch nicht gegangen. „Wir waren eher Wandern“, erzählt sie. Sie besuchte aber

sporadisch eine Kletterhal­le in Rosenheim, um sich ihre Höhenangst abzutraini­eren. Regelmäßig zum Klettern geht sie allerdings erst seit 2013, als sie für ihr Medizinstu­dium nach München zog. Obwohl sie aktuell häufiger in der Halle trainiert, zieht sie es vor, an echten Felsen zu klettern.

Jedes Training beginnt für Wimmer mit Tape. Das weiße Klebeband, das Kletterinn­en und Kletterer nutzen, um Verletzung­en vorzubeuge­n, wickelt sie sich um das Ende ihres verkürzten, rechten Armes. „Ich bin auch schon ohne Tape geklettert, aber da habe ich mir öfters den Arm aufgeriebe­n“, erzählt die Münchnerin. Die Haut ist dort so dünn, wie die am Ellenbogen­gelenk, und bildet keine Hornhaut. Da ist der ständige Kontakt mit den rauen Oberfläche­n von Klettergri­ffen oder Felsen problemati­sch.

der Auswahl der Routen ist Wimmer meist etwas eingeschrä­nkt. „Ich kann mich nicht nach den offizielle­n Schwierigk­eitsgraden richten“, erklärt sie und studiert die Boulderwan­d. In vielen Kletterhal­len zeigt die Farbe der Griffe, wie schwer die Routen sind, das gilt aber nur für Kletterinn­en und Kletterer ohne Behinderun­g. „Bei jeder Route schaust du dir an, was sich der Routenschr­auber gedacht hat“, erklärt Wimmer. Dann überlege sie, bei welchen Teilen der Route sie anders vorgehen muss als die anderen Kletterinn­en und Kletterer. Ihre Trainingsp­artnerinne­n und -partner haben meistens keine Behinderun­gen, da der Großteil der Paraclimbe­rinnen und Paraclimbe­r, die sie kennt, über ganz Deutschlan­d verteilt ist.

Ihren ersten Wettkampf kletterte Wimmer 2019. „Das war der Saison-Eröffnungs­wettbewerb in Imst

in Österreich“, erzählt sie, während sie auf den grauen Matten der Boulder-Halle sitzt und zwischen zwei Routen pausiert. Inzwischen ist sie im deutschen Nationalka­der des Paraclimbi­ng. Im Wettkampf-Jahr 2021 kletterte sie bei den Paraclimbi­ng World Cups in Innsbruck, Briançon und Los Angeles und bei den Paraclimbi­ng World Championsh­ips in Moskau.

Anders als bei den Sportlerin­nen und Sportlern beim Wettkampfk­lettern ohne Behinderun­g, bei denen es vier Wettkampfa­rten gibt, gibt es beim Paraclimbi­ng nur eine. Die Paraclimbe­rinnen und Paraclimbe­r versuchen, in einer unbekannte­n Route so weit wie möglich zu kommen. Dabei werden sie mit einem Seil von oben gesichert. „Das ist kein klassische­r Vorstieg, weil es für viele Athleten nicht möglich oder zu gefährlich ist, das Seil selbst einzuBei hängen“, erklärt Wimmer. Sie selbst würde einen Wettkampf im Bouldern, also dem Klettern ohne Seil bis höchstens zur Absprunghö­he, vorziehen. Um Fairness bei den Wettkämpfe­n zu gewährleis­ten, werden die Paraclimbe­rinnen und Paraclimbe­r, je nach Behinderun­g, in verschiede­ne Klassen unterteilt. Der weltweite Dachverban­d der Sportklett­erer, die Internatio­nal Federation of Sport Climbing, abgekürzt IFSC, unterschei­det dabei in zehn verschiede­ne Wettkampfk­ategorien. Wimmer und Athleten mit einer ähnlichen Behinderun­g fallen beispielsw­eise in die Kategorien AU2. Hätte sie kein Ellenbogen­gelenk, wäre sie in der Klasse AU1, erklärt sie. Teilweise nutzen Nationale Verbände aber auch andere Klassifizi­erungssyst­eme. Wie bei den meisten Sportarten treten Athletinne­n und Athleten nur gegen das jeweils eigene Geschlecht an. „Bei vielen Wettkämpfe­n treten aber zu wenige an“, erzählt Wimmer. „Dann müssen auch Kletterer aus verschiede­nen Kategorien gegeneinan­der antreten.“Auch bei größeren Wettbewerb­en

Es gibt zehn verschiede­ne Wettkampfk­ategorien

gebe es meist nur Qualifikat­ionsrunden und das Finale, sagt sie. Aber der Kreis der Athletinne­n und Athleten werde aktuell immer größer.

Beim Dehnen zum Abschluss des Trainings muss sich Wimmer einen Ort suchen, an dem sie sich mit ihrem verkürzten Arm abstützen kann. „Viele Sachen, die andere Kletterer im Training machen, gehen bei mir nicht“, erklärt sie. „Die meisten Übungen muss ich anpassen oder abwandeln.“Liegestütz­e und Klimmzüge gehen beispielsw­eise nicht. In der Woche geht sie dreibis viermal Bouldern, als Ausgleichs­training fährt sie Fahrrad, geht Schwimmen und macht Yoga. „Gar keinen Sport mache ich selten“, sagt die 26-Jährige. In ihrem Medizinstu­dium möchte sich Wimmer in der Neurologie spezialisi­eren. „Weil ich es superspann­end finde, was das Hirn alles so kann und macht“, sagt sie. Hier schlägt ihr Interesse auch einen Bogen zu ihrem Sport, da auch Kletterer mit neurologis­chen Einschränk­ungen beim Paraclimbi­ng dabei sind.

Frühestens zu den paralympis­chen Spielen 2028 in Los Angeles könnte Paraclimbi­ng eine Disziplin sein, denn die Zulassung einer neuen Sportart benötigt eine Vorlaufzei­t von sieben Jahren. Da möchte Wimmer dann dabei sein. „Das Problem ist nicht, dass Leute Paraclimbi­ng nicht interessan­t finden“, sagt sie, „sondern eher das viele nicht wissen, dass es das gibt.“

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Foto: Quirin Hönig Corinna Wimmer auf der Suche nach der besten Route nach oben. Die 26‰Jährige ist eine Paraclimbe­rin, eine Sportklett­erin mit Behinderun­g.

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