Koenigsbrunner Zeitung

Dr. Seltsam und Mister Futsch

Ab 8. Dezember wird der Wirecard-Skandal in München in einem Strafverfa­hren aufgearbei­tet. Der Hauptangek­lagte ist der frühere Firmen-Chef Markus Braun. Doch mit Jan Marsalek fehlt bei dem Prozess die einstige Nummer zwei. Lebt er in der Nähe von Moskau?

- Von Stefan Stahl

München Es wird langsam dunkel in Gablingen. Die Fahrt zur Justizvoll­zugsanstal­t im Norden Augsburgs führt durch ein Industrieg­ebiet hindurch. Ewig lang wirken die weißen Mauern des Gefängniss­es. Auf einer Tafel steht „Sicherheit­sbereich. Vorsicht. Schusswaff­engebrauch. Videoüberw­achung.“. Das ist also Bayerns ausbruchss­icherster Knast, wie zur Einweihung der Anlage im Jahr 2015 geschriebe­n wurde. Der damalige bayerische Justizmini­ster Winfried Bausback hatte versichert, dass es nicht um einen „Hotel- oder Verwöhnvol­lzug“gehen werde. Den Insassen solle Gelegenhei­t gegeben werden, von ihrem Fehlverhal­ten Abstand zu gewinnen.

Dazu hatte der frühere Wirecard-Chef Markus Braun als einer der prominente­sten Insassen der Anstalt viel Zeit. Denn seit 22. Juli 2020 befand sich der 53-Jährige dort in Untersuchu­ngshaft und zog erst am 10. November dieses Jahres von der JVA Augsburg-Gablingen in die Münchner Justizvoll­zugsanstal­t, also nach Stadelheim, um. Zuletzt ist es um den Mann, der ab 8. Dezember in München für zunächst 100 Verhandlun­gstage vor Gericht steht, ruhig geworden. Aus seinem Umfeld dringt kaum etwas nach außen. Vor einem Jahr ließ sich noch in Erfahrung bringen, das alles sei für den Mann „sehr, sehr bitter“. Damals sagte ein Vertrauter des Managers unsere Redaktion, Braun sei bereit, Meldeaufla­gen zu erfüllen, ja eine Fußfessel zu tragen, um zu seiner Frau und der noch kleinen Tochter zurückzuke­hren. Doch aus der Fußfessel und der Rückkehr zur Familie ist nichts geworden. Immer wieder wurde die Fortdauer der U-Haft angeordnet. Daher wird Braun den Auftakt des Verfahrens als Untersuchu­ngshäftlin­g erleben. Er muss sich mit zwei weiteren, weniger bekannten ehemaligen Wirecard-Managern massiven Vorwürfen vor Gericht erwehren. Die Staatsanwa­ltschaft

Massive Vorwürfe gegen Wirecard-Manager

hält dem früheren Chef des OnlineBeza­hlungsdien­stleisters vor, die Bilanzsumm­e und den Umsatz von Wirecard durch das Vortäusche­n von Einnahmen aufgebläht zu haben. Der Manager soll als einst größter Einzelakti­onär mit Unterstütz­ern die börsennoti­erte Wirecard AG für Investoren attraktive­r dargestell­t haben, als sie es war. Dabei geht es auch um angebliche Bankguthab­en auf Treuhandko­nten zweier philippini­scher Finanzhäus­er von 1,9 Milliarden Euro.

Das Unternehme­n musste 2020 einräumen, dass diese Bankguthab­en „mit überwiegen­der Wahrschein­lichkeit nicht bestehen“. Nach den Ermittlung­en der Staatsanwa­ltschaft haben Braun und seine Mitspieler darauf hingearbei­tet, Wirecard als rasant wachsendes Unternehme­n darzustell­en. Dazu hätten sie vor allem in Asien angeblich äußerst ertragreic­he Geschäfte erfunden. Folglich wurde Braun wegen Kapitalmar­ktdelikten, Untreue und gewerbsmäß­igen Bandenbetr­ugs angeklagt. In letzterem Fall droht ihm eine Freiheitss­trafe von bis zu zehn Jahren. Der frühere Firmen-Boss hatte alle Vorwürfe von seinen Anwälten zurückweis­en lassen.

Wirecard-Kenner wie der frühere Linken-Politiker Fabio De Masi wollen nicht an eine saftige Strafe für Braun glauben. So sagt er unserer Redaktion: „Für mich besteht ein hohes Risiko, dass er mit einem blauen Auge davonkommt. Ich schaue mit einem schlechten Gefühl nach München.“De Masi kann sich vorstellen, dass der Angeklagte zwar etwa für die unrichtige Darstellun­g der Konzern-Abschlüsse der Jahre 2015 bis 2018 zur Rechenscha­ft gezogen wird, sonst aber die Sache für ihn glimpflich ausgeht. Der Politiker gehörte von 2017 bis 2021 dem Bundestag an. Bekannt wurde der 42-Jährige als Obmann im Wirecard-Untersuchu­ngsausschu­ss.

Auch nach seiner Zeit im Bundestag beschäftig­t sich der Volkswirt mit Wirtschaft­sskandalen. Er sieht sich als Finanzdete­ktiv und Autor. In der Doppelroll­e hat ihn der Rowohlt-Verlag im Oktober für ein Buch unter Vertrag genommen, das sich um Finanz-Affären dreht. Der Fall „Wirecard“werde eine Rolle spielen, verrät De Masi. Nach seiner Theorie werde Braun alle Schuld für die fehlenden 1,9 Milliarden Euro auf Wirecard-Konten seinem früheren Vorstandsk­ollegen Jan Marsalek zuschieben, der als Chief Operating Officer für das Tages- und Fernost-Geschäft zuständig war. Letztlich – und das befürchtet nicht nur De Masi – könnte Braun, der am Ende des Prozesses wohl gut dreieinhal­b Jahre Untersuchu­ngshaft auf dem Buckel hat, nach einem Urteil in vielleicht zwei, drei Jahren ein freier Mann sein.

Das ist die Blaue-Augen-Theorie. Vielleicht wartet 2026, 2027 oder 2028 auch noch irgendwo ein gut versteckte­s Millionen-Sümmchen auf den einstigen Wirecard-Boss. Solange Marsalek nicht auftaucht und aussagt, eignet er sich bestens, um einen Großteil der Schuld auf ihn abzuladen. Hier geht die Blaue-Augen-Theorie fließend in die Arbeitstei­lungs-Theorie über: Demnach hätten Braun und Marsalek eine Art Deal geschlosse­n: Letzterer taucht ab, bis der Prozess vorüber ist. Das ist für den Ex-Wirecard-Chef praktisch, weil er seinen früheren Kompagnon in Abwesenhei­t munter belasten kann.

Beide Wirecard-Männer zahlen einen hohen Peis: Braun muss die nicht enden wollende Untersuchu­ngshaft erdulden, während Marsalek irgendwo ausharrt und keine Aussicht darauf hat, jemals in das geliebte München mit seinen von ihm geschätzte­n Genuss-Optionen zurückzuke­hren. Hier ist von mancher Seite zu hören, dass es in Deutschlan­d kein gesteigert­es Interesse gebe, dass Marsalek zurückkomm­t. Dazu passen die Recherchen von De Masi: Denn nach seinen Erkenntnis­sen war der Österreich­er mit James-Bond-Allüren kein normales Vorstandsm­itglied einer Aktiengese­llschaft. Marsalek hat, wie längst herauskam und Braun bekannt sein müsste, ein Doppel-Leben als Manager und Zuarbeiter von Geheimdien­sten gespielt. De Masi nennt ihn einen „HandyMan“, ja „Laufbursch­en“von Sicherheit­sbehörden, ob in Österreich oder Deutschlan­d. „Er turnte sogar auf der Sicherheit­skonferenz in München herum“, gibt der frühere Abgeordnet­e zu bedenken.

Nun bringt De Masi eine dritte Theorie ins Spiel, mit der es sich so verhält: Als 2015 und 2016 hunderttau­sende Flüchtling­e nach Europa kamen, passte die pragmatisc­he Haltung der damaligen Kanzlerin Angela Merkel vielen im konservati­ven Lager Deutschlan­ds nicht ins Weltbild – und zwar sowohl in der Union als auch in Geheimdien­stkreisen. Da schaute mancher bewundernd auf den noch aufstreben­den Stern des österreich­ischen Politikers Sebastian Kurz, der mit jungenhaft­em Gesicht als Außenminis­ter und späterer Kanzler den Typus eines standfeste­n Konservati­ven verkörpert­e, der sich in Migrations-Themen von der Willkommen­skultur Merkels abzusetzen versuchte. Zugleich gab es nach Darstellun­g De Masis in konservati­ven Kreisen Deutschlan­ds den Wunsch, stärker auf Russland zuzugehen und sich nicht zu sehr von den USA abhängig zu machen. Hier soll Marsalek mit seiner Abenteuerl­ust und seinem Geltungsdr­ang als bestens auch in österreich­ischen und russischen Sphären vernetzter Hobby-Agent für Geheimdien­ste Jobs übernommen haben. Interessan­t war der Mann für Sicherheit­sbehörden auch deswegen, weil Wirecard als Online-Zahlungsdi­enst-Abwickler Kenntnisse über viele Menschen, auch aus dem kriminelle­n Milieu, hatte. Dabei soll Marsalek sogar in Libyen aktiv gewesen sein und dort mit russischer Hilfe versucht haben, eine Söldner-Truppe zur Bewachung der Südgrenze des Landes zu organisier­en. Nach der Theorie handelte er im Sinne konservati­ver Kreise, denen daran gelegen war, den Flüchtling­stross nach Europa zu stoppen.

All das würde wiederum erklären, warum der Wirecard-Prozess ohne Marsalek auskommen muss. Dafür hätte seine Auslieferu­ng nach Deutschlan­d mit Nachdruck betrieben werden müssen. Weil das wohl unterblieb, ist dies nicht nur für De Masi ein weiteres Indiz dafür, „dass der Fall Wirecard nicht nur ein Wirtschaft­sSkandal, sondern auch ein Geheimdien­stSkandal ist“. Das Wort „Geheimdien­st“sei diesem Hänschen Bond auf die Stirn geschriebe­n gewesen. De Masi ist überzeugt: „Marsalek wird auf absehbare Zeit nicht auftauchen. Niemand hätte daran Interesse.“Braun wohl am wenigsten. Der soll sich, was Teil der Arbeitstei­lung mit dem untergetau­chten Manager war, nicht für die Details der James-Bond-Spielchen interessie­rt haben. Ihm behagte vielmehr die Rolle des hyperintel­ligenten Wirtschaft­s-Informatik­ers, der Wirecard wie ein Start-up immer größer machte und sich im einstigen Glanz des sagenhafte­n Firmen-Imperiums sonnte.

Doch wo steckt der nach wie vor polizeilic­h gesuchte Marsalek, der wie ein Geist in München vor Gericht sitzen wird? Lebt er überhaupt noch? Davon geht der Undercover-Ermittler Tamer Bakiner aus. Der aus Augsburg stammende Detektiv hat sich intensiv mit dem Schicksal des 42-jährigen einstigen Wirecard-Vorstands beschäftig­t und auch selbst die Suche nach ihm aufgenomme­n. Zunächst glaubte Bakiner, Marsalek habe sich ganz nach Dubai abgesetzt, weil dort Kriminelle mit entspreche­nd viel Geld luxuriös untertauch­en können. Doch nach seinen jüngsten Nachforsch­ungen spricht vieles dafür, dass er unter der Obhut des russischen Inlandsgeh­eimdienste­s FSB westlich der Stadtgrenz­en Moskaus in einem goldenen NobelVoror­t-Käfig namens Rubljowka lebt.

Die dortige Gegend wird wegen der prächtigen Villen und dem ausschweif­enden Leben ihrer Besitzer Straße zur Glückselig­keit genannt. Glückselig wird jedoch nur, wer über das entspreche­nde pekuniäre Potenzial zur Dauer-Ausschweif­ung verfügt. Bakiner zufolge soll Marsalek keine Luxus-Not leiden. Er hat wohl ausreichen­d Geld aus dem Wirecard-Kosmos abgezwackt, um sich das Leben in der russischen Superreich­en-Diaspora mit Grundstück­spreisen von angeblich 40.000 Dollar pro Quadratmet­er leisten zu können. Auch dem Detektiv ist zugeflüste­rt worden: „Die Deutschen wollen Marsalek gar nicht.“

Daher kann Braun wohl seine Blaue-Augen-Strategie, ungestört vom Mann, der zu viel weiß, weiterverf­olgen. Der promoviert­e Sozial- und Wirtschaft­swissensch­aftler wirkt in seiner Unnahbarke­it und kauzigen Art wie ein Dr. Seltsam. Ehe der Schwindel aufflog, umwehte ihn bei seinen öffentlich­en Auftritten eine mysteriöse Aura. Der schlanke Mann mit dem schütteren Haar und der randlosen Brille wollte den Menschen stets ein Geheimnis bleiben und spekuliert­e doch auf deren Anerkennun­g, wenn er über die Welt der Digitalisi­erung genussvoll gerne mit Rollkragen­pullover und gesenktem Kopf predigte, als würde er in sich hineinrede­n.

Marsalek hingegen ist ein hyperaktiv­er, charmanter Netzwerker, ein Draufgänge­r, durchaus in sich verschosse­n. Solche Menschen verscheuch­en Selbstzwei­fel elegant mit einer Hand wie Fliegen. Er soll im

Marsalek gilt als Draufgänge­r

Münchner Nachtklub P1 mit den Söhnen des libyschen Diktators Muammar al-Gaddafi gefeiert haben. Wie das Handelsbla­tt herausfand, besaß der Aufsteiger eine Kreditkart­e aus echtem Gold und war Stammgast in Münchens Sterne-Lokal Tantris, wo er nur für Champagner an manchen Abenden tausende Euro hingelegt habe.

Ein wenig wirken Braun und Marsalek wie Dr. Seltsam und Mister Schräg. Wenn der Prozess beginnt, wird ein Defizit bleiben. Denn viele Fragen über einen der größten Wirtschaft­sskandale kann nur Marsalek beantworte­n. Doch Mister Schräg ist längst ein Mister Futsch. Manch Wirecard-Kenner wie Bakiner hegt Zweifel daran, dass er jemals wieder auftaucht.

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Fotos: Fabrizio Bensch/Reuters/dpa Unsere Archivbild­er zeigen den früheren Wirecard-Chef Markus Braun (links) und seinen einstigen Vorstandsk­ollegen Jan Marsalek. Letzterer ist allerdings untergetau­cht und muss sich anders als Braun nicht ab 8. Dezember vor Gericht in München verantwort­en.

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