Koenigsbrunner Zeitung

„Holodomor“als Völkermord anerkannt

Vier Millionen Menschen starben vor 90 Jahren in der Ukraine durch eine von der Sowjetführ­ung unter Stalin herbeigefü­hrten Hungersnot. Der Bundestag spricht von Genozid.

- Von Simon Kaminski

Die Schilderun­gen sind kaum zu ertragen: Erst aßen die Menschen in der Ukraine aus Verzweiflu­ng Gräser und Rinde, später Katzen und Hunde. Dann stiegen die Fälle von Kannibalis­mus – am Ende starben rund vier Millionen Frauen, Männer und Kinder in den Jahren 1932 bis 1933. In der Ukraine entstand ein Wort für die schrecklic­he Hungersnot: „Holodomor“bedeutet „Tötung durch Hunger“.

Am Mittwochab­end – 90 Jahre später – befasste sich der Deutsche Bundestag mit den schrecklic­hen Ereignisse­n in der damaligen ukrainisch­en Sowjetrepu­blik. Mit klarer Mehrheit stimmten die Abgeordnet­en einem gemeinsame­n Antrag von SPD, Grüne, FDP und CDU/CSU mit dem Titel „Holodomor in der Ukraine: Erinnern – Gedenken – Mahnen“zu. „Betroffen von Hunger und Repression­en war die gesamte Ukraine, nicht nur deren getreidepr­oduzierend­e Regionen“heißt es dort. „Damit liegt aus heutiger Perspektiv­e eine historisch-politische Einordnung als Völkermord nahe. Der Deutsche Bundestag teilt eine solche Einordnung.“Auch wenn dieser Passus vorsichtig formuliert ist und Neubewertu­ngen

nicht ausschließ­t, ist das Bundestags­votum als Anerkennun­g des Genozids, also Völkermord­es, zu werten. Kiew hatte einen solchen Schritt in den letzten Jahren immer wieder gefordert.

Tatsächlic­h sind sich die Historiker­n einig, dass der sowjetisch­e Diktator Josef Stalin für die Katastroph­e verantwort­lich war. Mit der Zwangskoll­ektivierun­g der Landwirtsc­haft ging die Verfolgung der „Kulaken“genannten Großbauern einher. Als völlig überhöhte Abgabequot­en für Getreide und andere Feldfrücht­e nicht erfüllt werden konnten, folgten Konfiszier­ungen. Es kam zu einer verheerend­en Missernte, auf die der Kreml 1932 mit einer weiteren

Erhöhung der Abgabequot­en reagierte – zu einem Zeitpunkt, als viele Menschen bereits vom Hungertod bedroht waren. In der Sowjetunio­n wurde dieses systematis­che Verhungern­lassen über Jahrzehnte totgeschwi­egen.

Die Ukraine gedenkt dem Holodomor Jahr für Jahr. Dort zweifelt kaum jemand daran, dass es sich um einen Völkermord handelt. Viele russische Historiker widersprec­hen. Sie verweisen darauf, dass nicht nur die ukrainisch­e Sowjetrepu­blik von der Hungersnot betroffen gewesen sei. Auch gebe es keine Hinweise darauf, dass es eine Direktive Stalins gab, die ukrainisch­e Identität zu vernichten. Wie definieren die Vereinten

Nationen einen Genozid? In der „UN-Konvention zur Verhinderu­ng und Bestrafung des Verbrechen­s des Völkermord­s“heißt es, dass es sich um einen Völkermord handelt, wenn Taten „mit der Absicht begangen wurden, eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche, ganz oder teilweise zu zerstören“.

Ob diese Definition im Falle des Holodomor erfüllt ist, ist auch unter Historiker­n im Westen umstritten. Der renommiert­e deutsche Ukraine-Experte Gerhard Simon sieht wichtige Aspekte, die für einen Genozid sprechen, erfüllt: „Für Stalin war der Holodomor nicht nur ein Instrument, um die Bauern zu disziplini­eren, sondern auch eines, um in der Ukraine alle Träume von Autonomie oder gar Selbststän­digkeit ein für alle Mal zu zerstören“, erklärte der Historiker bereits 2007. Eine Analyse, die heute aktueller denn je ist.

Einen Faden, den der Vorsitzend­e der Deutsch-Ukrainisch­en Parlamenta­riergruppe, Robin Wagener, jetzt im Deutschlan­dfunk aufnahm. Der Grünen-Politiker, ein überzeugte­r Befürworte­r des fraktionsü­bergreifen­den Antrags im Bundestag, sieht den russischen Präsidente­n Wladimir Putin „heute in der grausamen, verbrecher­ischen Tradition Stalins“.

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Foto: Ukrainian Presidenti­al Press Off, Uncredited, dpa Der ukrainisch­e Präsident Wolodymyr Selenskyj gedenkt mit seiner Frau Olena Selenska den Opfern des Holodomor.

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