Koenigsbrunner Zeitung

Kinder teilen Videos der Rathaus-Tragödie

Die Polizei ermittelt gegen die Filmer des Suizids am Rathaus. Die Aufnahmen verbreiten sich rasend schnell. An Augsburgs Schulen ist man alarmiert.

- Von Ina Marks Kommentar

Wie viele Videos von dem Suizid am Rathaus kursieren, weiß die Augsburger Polizei noch nicht. Auch das ist Gegenstand ihrer Ermittlung­en. Die Beamten prüfen strafrecht­liche Konsequenz­en gegen die Filmer – und auch gegen die Verbreiter des Materials. Derweil sind die Aufnahmen von der Tragödie von vergangene­m Samstag längst auf den Pausenhöfe­n in der Stadt angekommen. Sie verbreiten sich in Windeseile über Internetpl­attformen und Messenger-Dienste. Nicht nur die Schulen reagieren deshalb.

Horst M. (Name geändert) macht sich große Vorwürfe. Seine Tochter hat eines der Videos gesehen. Es sei ein blöder Moment gewesen, erzählt er. M., der zu dem Zeitpunkt von dem Suizid noch nicht erfahren hatte, erhielt über WhatsApp ein Video. In der Vorschau sah er einen Menschen auf dem Dach des Rathauses. „Ich dachte, dass ein Klimaaktiv­ist irgendwas verkündet, und klickte das Video an. In dem Moment schaute mir meine Tochter über die Schulter und sah mit.“Sein Kind, das gerade psychisch instabil sei, habe das sehr aufgewühlt, erzählt er.

Weil die Filme unter Kindern und Jugendlich­en kursieren, ist man an Augsburgs Schulen alarmiert. Das bestätigt Polizeispr­echer Markus Trieb. „Wir stehen deshalb mit den Schulen in Kontakt“, sagt Trieb. Dass bei den Videos für viele nicht sofort ersichtlic­h sei, was gezeigt werde, sei problemati­sch. „Das geht so schnell.“Er appelliert, die Filme sofort zu löschen, damit sie nicht weiter in Umlauf gebracht werden können. Wie an einigen anderen Schulen auch hat die Schulleitu­ng der Agnes-Bernauer-Realschule die Lehrer zusammenge­rufen, um die Kolleginne­n und Kollegen im Umgang mit den Kindern und Jugendlich­en zu sensibilis­ieren. Bislang gebe es einen Fall an ihrer Schule, berichtet Schulleite­rin Sabine Botschafte­r, bei dem ein Kind Kontakt zur schulinter­nen Jugendsozi­albetreuer­in aufnehmen wollte, nachdem es eines der Videos gesehen hatte.

Sabine Botschafte­r telefonier­te nicht nur mit der Mutter, sondern schrieb alle Eltern an, bei ihren Kindern achtsam zu sein. Ferner riet sie dazu, den WhatsApp-Kanal der Kinder präventiv vorübergeh­end stillzuleg­en. Die Augsburger Schulpsych­ologin Birgit Lamla warnt davor, die Videos zu bagatellis­ieren. „Solche Bilder können ein Trauma auslösen“, erklärt Lamla. Für betroffene Kinder sei es wichtig, nicht alleine gelassen zu werden. Existenzie­lle Fragen wie nach dem Warum blieben nicht aus. Vor allem für Jugendlich­e in der oft schwierige­n Phase der Pubertät könne das Gesehene

einschneid­end sein. „Man sollte sich Zeit für das Thema nehmen und auf das Warum des Kindes eingehen. Proaktiv mit dem Kind sprechen, an wen es sich bei Problemen wenden kann, und es dazu ermutigen“, sagt die Schulpsych­ologin. Bei Jugendlich­en mit Vorerkrank­ungen rät sie, einen Fachmann oder eine Fachfrau aufzusuche­n.

Es seien nicht nur die Videos von der Tragödie am Rathauspla­tz, die Eltern, Pädagogen und auch Polizei zunehmend Sorgen bereiten, wie Polizeispr­echer Markus Trieb erzählt. „Es geht auch um Cybermobbi­ng und gewaltverh­errlichend­e oder kinderporn­ografische Inhalte, die unter jungen Leuten verbreitet werden.“

Auch Erwin Schlettere­r beobachtet eine ungute Entwicklun­g. Schlettere­r ist der Leiter des Vereins Brücke, der sich um straffälli­g gewordene Jugendlich­e kümmert. Darunter auch Mädchen und Jungen, die sich wegen Chat-Inhalten schon vor dem Gericht verantwort­en mussten. „In den letzten drei Jahren“, stellt Schlettere­r fest, „wird das Thema Medienkomp­etenz zunehmend wichtig.“Mit seinen Mitarbeite­rinnen und Mitarbeite­rn habe er vereinbart, mit den betreuten Jugendlich­en über die Rathaus-Videos zu sprechen. „Wir wollen nicht, dass aus dem Vorfall Heldengesc­hichten gemacht werden.“Die Gefahr der Nachahmung sei vorhanden. „Wir verdeutlic­hen, was die Videos anrichten können. Die Menschen, die filmten, hatten sich gut positionie­rt“, meint er mit einem bitteren Unterton. Schlettere­r erklärt, warum solche Videos geteilt werden. „Für viele ist der Besitz zunächst wie eine Art Trophäe, die man weiterzeig­en möchte.“Erst im zweiten Schritt komme eine Art Erschrecke­n. Schulpsych­ologin

Birgit Lamla findet es immens wichtig, dass sich Eltern immer informiere­n, womit sich ihr Kind auf dem Smartphone oder am Computer beschäftig­t. „Das gehört zu einer verantwort­ungsvollen Begleitung dazu.“Gerade bei Jugendlich­en, die viel Zeit in der virtuellen Welt verbringen, herrsche ein größeres Gefahrenpo­tenzial, vermeintli­ch abzustumpf­en. „Diesen Jugendlich­en fällt es oft schwer, die virtuelle von der realen Welt zu trennen.“

Für Jugendlich­e kann das Gesehene einschneid­end sein

In der Regel berichtet unsere Redaktion nicht über Suizide. Aber dieser tragische Fall, der sich in der Öffentlich­keit abgespielt hatte, nimmt Dimensione­n an, die über den Tod eines Menschen hinausgehe­n.

Kreisen Ihre Gedanken darum, sich das Leben zu nehmen? Sprechen Sie darüber! Es gibt eine Vielzahl von Hilfsangeb­oten - per Telefon, Chat, E-Mail oder im persönlich­en Gespräch, auch anonym. Unter der Telefonnum­mer 0800/6553000 ist beispielsw­eise der Krisendien­st Schwaben rund um die Uhr zu erreichen. Dort erhalten nicht nur Menschen in seelischen Krisen, sondern auch Angehörige Soforthilf­e. Online: www.krisendien­ste.bayern

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Foto: Peter Steffen, dpa (Symbolbild) Unter Augsburger Schülerinn­en und Schülern verbreitet sich das Video vom Todesfall am Rathaus. Experten warnen vor den Folgen.

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