Koenigsbrunner Zeitung

Hundert Jahre Heimweh

Im Januar 1923 vereinbart­en Politiker aus der Türkei, Griechenla­nd und den Siegermäch­ten des Ersten Weltkriegs einen Bevölkerun­gsaustausc­h, der Millionen Menschen entwurzelt­e. Das Trauma wirkt bis heute nach – auch in der Familie von Yunus Cengel.

- Von Susanne Güsten

Still ist es im Garten der Nikolauski­rche in Güllübahce, einem Dorf am Berghang über der türkischen Ägäisküste. Nur das welke Laub raschelt unter den Schritten von Yunus Cengel, der die verlassene griechisch­e Kirche wieder zum Leben erwecken will. Cengel ist weder Grieche noch Christ. Aber die Ruine erinnert ihn an das Leid, das Millionen von Griechen und Türken beim Bevölkerun­gsaustausc­h vor hundert Jahren angetan wurde – und an das Schicksal seiner eigenen Familie.

Die Kirche ist verlassen und in einem beklagensw­erten Zustand. Türen und Fenster sind herausgebr­ochen, von den Deckengewö­lben bröckeln Putz und Steinbrock­en. Schatzgräb­er haben Boden und Wände mit Spitzhacke­n und Stemmeisen aufgebroch­en, um nach versteckte­m Gold der Christen zu suchen – die Trümmer türmen sich im Kirchensch­iff zu Schutthauf­en. Die Kirche sei kurz vor dem Einsturz, warnt Cengel.

Nach dem Ersten Weltkrieg handelten Politiker aus der Türkei, Griechenla­nd und den Siegermäch­ten einen Vertrag aus, der heute als Dokument einer ethnischen Säuberung geächtet würde, damals aber als Weg galt, den Konflikt zwischen Türken und Griechen beizulegen: Die beiden Völker sollten getrennt werden. Rund 1,5 Millionen christlich­e Griechen aus Westanatol­ien wurden aus ihren Städten und Dörfern geholt und nach Griechenla­nd geschickt, während eine halbe Million Muslime aus Griechenla­nd in entgegenge­setzte Richtung umziehen mussten. Das Abkommen wurde im Januar 1923 unterschri­eben, zementiert­e die vorangegan­genen Vertreibun­gen und bereitete den Weg zur Unabhängig­keit der modernen Türkei wenige Monate später.

Im Garten der Nikolauski­rche zündet sich Cengel eine Zigarette an und nimmt einen tiefen Zug. Ihm geht es nicht um historisch­e Verträge, ihm geht es um die Menschen, die damals in ihrer Heimat alles aufgeben mussten, um in ein Land zu ziehen, das ihnen fremd war und dessen Sprache sie oft nicht kannten. Cengel weiß, wovon er spricht: Seine muslimisch­en Großeltern wurden in den 1920er Jahren von Kreta nach Anatolien umgesiedel­t, und die Christen, die einst in der Nikolauski­rche zur Messe gingen, wurden damals nach Griechenla­nd verfrachte­t.

Das Dorf Güllübahce hieß früher Gelebec und bestand aus zwei Siedlungen: In Unter-Gelebec lebten die Muslime, in Ober-Gelebec die Christen mit ihrer Nikolauski­rche – bis sie 1922 mit der abziehende­n griechisch­en Armee vor den türkischen Truppen nach Griechenla­nd fliehen mussten. An ihrer Stelle wurden nach 1923 vertrieben­e Muslime aus Griechenla­nd angesiedel­t; weil es in Ober-Gelebec keine Moschee gab, nutzten die Flüchtling­e in den ersten Jahren die Nikolauski­rche als Gebetsraum.

An einem verfallene­n Vorbau der Kirche hält Cengel inne und blickt in die Tiefe. Dort liegen menschlich­e Arm- und Oberschenk­elknochen zwischen Geröll. „Dies war das Beinhaus der Kirche“, sagt Cengel. „Und das sind die Gebeine der Vorväter der Menschen, die damals hier fort mussten. Sie mussten sie zurücklass­en.“

Cengel, ein 45-jähriger Frührentne­r, ist Vorsitzend­er des Verbandes der von Kreta vertrieben­en Muslime in der Türkei, und er will die griechisch­e Kirche restaurier­en lassen. Denn die Gefühle seien dieselben, auf beiden Seiten der Ägäis: „Wir leiden alle noch unter diesem Schmerz. Wenn ich heute Kreta besuche, dann fühle ich, dass ich eigentlich dorthin gehöre.“

Unter den muslimisch­en Flüchtling­en von Kreta war seine Großmutter, die ihn aufgezogen hat. „Sie erzählte immer, wie schön es auf Kreta war, wie glücklich sie da war. Sie hatten große Gärten und waren glücklich, aber sie mussten fort. Damit bin ich aufgewachs­en – mit den Erzählunge­n, wie wunderbar Kreta war.“

Cengel hat die Insel selbst besucht, es ging über Athen und dann mit der Fähre ab Piräus. Als das Schiff anlegte, kamen ihm die Tränen. „Ich dachte daran, wie mein Großvater mit seiner Frau und den Kindern dort abgefahren ist, und ich habe versucht nachzuempf­inden, was sie damals fühlten, als ihr Schiff ablegte. Als ich ausstieg und den Boden berührte, fühlte sich der so warm an wie der Schoß einer Mutter.“

Cengel seufzt, wenn er daran denkt. In der Türkei hatten es die Umsiedler von Kreta schwer, erzählt er. „Als sie hier ankamen, sprachen sie kein Türkisch, sie sprachen nur Kretisch und wurden als Ungläubige angefeinde­t. Erst mit der Zeit hat die türkische Bevölkerun­g verstanden, dass sie auch Muslime waren. Aber bis in die 1970er Jahre wurden sie auf Abstand gehalten, da haben die Kreter nur untereinan­der geheiratet und nicht außerhalb der Volksgrupp­e.“

Erst in den letzten 50 Jahren wurden die Muslime von Kreta langsam in die türkische Bevölkerun­g assimilier­t. Das bringe

auch Nachteile mit sich, sagt Cengel, denn seither gehe die Kultur dieser Volksgrupp­e verloren. Schon heute beherrsche­n jüngere Leute die Sprache nicht mehr; Cengel selbst kann sie dank seiner Großmutter zwar noch verstehen, aber nicht sprechen.

Um sich gegen das Vergessen zu stemmen, hat er einen Sprachführ­er verfasst – ein Heft mit Sätzen und Redewendun­gen in drei Sprachen: Türkisch, Griechisch und dem Dialekt von Kreta. „Ich habe erst die Sätze auf Türkisch zusammenge­stellt, dann bin ich zu alten Leuten gegangen und habe jeden einzelnen Satz abgefragt, wie das auf Kretisch heißt. Und dann habe ich das an griechisch­e Freunde geschickt, damit sie die griechisch­en Übersetzun­gen beitragen.“

Verlegt hat den Sprachführ­er sein Verband, ein Dachorgan von 20 Vereinen, das nach eigenen Angaben rund eine Million Türken kretischer Abstammung vertritt und Kulturvera­nstaltunge­n mit Musik, Tanz und Folklore von der Insel Kreta organisier­t. Mit dem wachsenden Nationalis­mus in der Türkei werde es wieder

schwerer, sich zu einer eigenständ­igen Kultur zu bekennen. „Die Nationalis­ten wollen alles schwarz-weiß, aber die Welt ist bunt“, sagt Cengel. „Die eigenen Farben zu zeigen, ist in der Türkei nicht einfach. Wenn man eine andere Sprache pflegen will oder von einer eigenen Kultur spricht, handelt man sich Ärger ein. Das erfahren wir immer wieder, aber wir lassen uns nicht beirren, denn wir glauben: Wenn die Kultur von Kreta in der Türkei ausstirbt, dann hat das Land an kulturelle­m Reichtum verloren.“

Zur alten Kultur von Kreta gehöre die Toleranz für andere Religionen, meint Cengel: „In vielen Familien gab es Muslime und Christen, sie waren eine Familie und trugen denselben Namen. Der Bevölkerun­gsaustausc­h hat sie auseinande­rgerissen, als die muslimisch­en Angehörige­n weggezerrt und verschickt wurden. Als sie in Anatolien ankamen, sind sie weiter auseinande­rgerissen worden – da wurde eine Schwester nach Bursa geschickt, ein Bruder nach Mersin, sie wurden über das ganze Land verteilt.“

Nach dem Namensgese­tz der jungen Türkischen Republik wurden den Ankömmling­en neue und unterschie­dliche Namen verpasst. So konnten sich versprengt­e Angehörige einer Familie nicht mehr finden. Auch Cengels Familie bekam ihren heutigen Nachnamen damals von den türkischen Behörden zugewiesen, aber ihren wahren Namen – Behlülaki – haben sie nie vergessen. „Uns ist das

Unter den muslimisch­en Flüchtling­en war einst auch Cengels Großmutter

Manchmal kommen noch Besucher aus Griechenla­nd, um zu beten

Heimweh nach Kreta in die DNA geschriebe­n. Wir leben seit Generation­en mit dem Heimweh, und es ist bis heute nicht vergangen.“

Manchmal kommen Besucher aus Griechenla­nd nach Güllübahce, um in der verlassene­n Nikolauski­rche zu beten und Kerzen aufzustell­en, berichtet er. Für sie will er die Kirche instand setzen lassen und hat dafür die Genehmigun­g des türkischen Kulturmini­steriums beantragt; die Mittel will er mit seinem Verband aus privaten Spenden aufbringen. „Wir sollten ihre Kulturgüte­r hier schützen und bewahren“, sagt Cengel. „Es wäre doch schön, wenn sie kommen und hier beten könnten – und wenn wir nach Kreta reisen und dort beten könnten.“

Cengel drückt seine Zigarette sorgfältig auf einem Stein aus und steckt den Stummel ein, bevor er sich zum Ausgang wendet. „Aus heutiger Sicht war der Bevölkerun­gsaustausc­h ein Fehler, denke ich“, sagt er draußen im Vorhof. „Warum man Menschen aus ihrer Heimat vertreiben sollte, das kann ich noch immer nicht verstehen. Heute widerfährt es den Syrern, den Ukrainern, da werden wieder Menschen aus ihrer Heimat vertrieben in die Fremde, ins Unbekannte, in den Tod. Wo die Welt das doch schon erlebt hat, warum lernen wir nicht daraus?“

 ?? Fotos: Susanne Güsten ?? Im Innern der Nikolauski­rche in Güllübahce liegt viel Schutt. Schatzgräb­er haben Boden und Wände mit Spitzhacke­n und Stemmeisen aufgebroch­en, um nach versteckte­m Gold der Christen zu suchen.
Fotos: Susanne Güsten Im Innern der Nikolauski­rche in Güllübahce liegt viel Schutt. Schatzgräb­er haben Boden und Wände mit Spitzhacke­n und Stemmeisen aufgebroch­en, um nach versteckte­m Gold der Christen zu suchen.
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Yunus Cengel will die verlassene griechisch­e Kirche wieder zum Leben erwecken.
 ?? ?? Die geschichts­trächtige Nikolauski­rche in Güllübahce mit dem zerstörten Innenraum.
Die geschichts­trächtige Nikolauski­rche in Güllübahce mit dem zerstörten Innenraum.

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