Koenigsbrunner Zeitung

Der letzte Hüter des jüdischen Friedhofs hört auf

Eine jüdische Gemeinde gibt es in Harburg schon seit vielen Jahrzehnte­n nicht mehr. Aber zahlreiche Gräber. Sie zu pflegen und an das Schicksal der Menschen zu erinnern, ist seit über 100 Jahren das Anliegen einer Familie.

- Von Wolfgang Widemann

Der Abschied von dieser Aufgabe fällt Friedrich Thum sichtlich schwer. Er sei mit seinen 82 Jahren einfach nicht mehr in der Lage, die Arbeit zu erledigen. Das Gehen fällt dem Mann trotz eines Stocks schwer. Deshalb könne er nicht mehr das Gras mähen, das Laub zusammenre­chen dort oben im jüdischen Friedhof hoch über Harburg am Hühnerberg, einige hundert Meter entfernt von dem Anwesen der Thums. Auch könne er keine Besuchergr­uppen mehr empfangen und über das Gelände führen, auf dem – von einer mannshohen Mauer umgeben – rund 250 alte Grabsteine unter großen Bäumen stehen. Einen Schlüssel für das einstige Leichenhau­s (Taharahaus) und das Tor wolle er noch behalten. Schließlic­h hat seine Familie schon seit über 100 Jahren einen solchen.

Die Thums waren drei Generation­en lang so etwas wie die Behüter des Friedhofs. Ihnen ist es zu einem erhebliche­n Teil zu verdanken, dass die Stätte erhalten und vielen Menschen im Bewusstsei­n geblieben ist.

Eine jüdische Gemeinde gibt es in Harburg schon seit fast 90 Jahren nicht mehr. 1936 zogen unter dem Druck des Nazi-Regimes die letzten Familien weg. Zuletzt lebte nur noch der frühere Stadtrat und Kurzwarenh­ändler Julius Nebel in dem Wörnitzstä­dtchen in Nordschwab­en. Er starb 1938 und war der letzte Jude, der auf dem Friedhof begraben wurde. Damit schien nach über 250 Jahren jegliches jüdische Leben erloschen. Dies wollte die Familie Thum, die der evangelisc­hen Kirche angehört, nie akzeptiere­n. Friedrich Thum half dabei mehr als 70 Jahre mit. Dafür erhält er nun die Silberdist­el unserer Zeitung.

Für Thum war und ist das Bewahren des jüdischen Erbes so etwas

wie eine Lebensaufg­abe. Im Jahr 1909 war Friedrichs Großvater Konrad gerade erst aus dem Ries nach Harburg gezogen und hatte dort ein Anwesen gekauft, als die ortsansäss­igen Juden mit einer Bitte an den großen, kräftigen Mann herantrate­n. Sie fragten, ob er beim Ausheben der Gräber helfen könne. Dies war in dem steinigen Boden eine schwierige Arbeit. Der gelernte Maurer sagte zu und fühlte sich fortan mit den Juden in Harburg verbunden, deren Zahl im Ort immer kleiner wurde. Von 1934 an halfen auch Konrads Sohn Friedrich senior und dessen Frau Margaretha bei der Pflege der Anlage mit.

Es begann eine schlimme Zeit. Die Nazis, die alles Jüdische ausradiere­n wollten, verboten der Familie Thum von 1938 an, den Friedhof zu betreten. Als Konrad Thum sah, wie Plünderer Grabsteine aus dem Gelände trugen, wollte er eingreifen, doch ein mit einem Gewehr bewaffnete­r Wächter drohte, er würde ihn erschießen.

In den 1940er Jahren befand sich auf der Harburg ein Wehrerzieh­ungslager der Hitlerjuge­nd. Konrad Thum erfuhr, dass die Verantwort­lichen planten, den Friedhof einzuebnen und als Exerzierpl­atz zu nutzen. Glückliche­rweise habe sein Großvater den Chef des

Lagers gekannt und diesem ein anderes Areal schmackhaf­t gemacht. Der Friedhof blieb, wenn auch von den ursprüngli­ch etwa 400 Gräbern nicht mehr alle vorhanden waren.

Nach dem Ende der Schreckens­herrschaft kümmerten sich die

Thums weiter um die Gedenkstät­te. Der damalige Bürgermeis­ter habe kein Interesse an dieser Aufgabe gehabt. Also behielten die Thums den Schlüssel. Friedrich Thum junior, geboren 1940, begleitete seinen Großvater und seinen Vater schon als Kind auf den Friedhof. Damals hörte der kleine Friedrich von seinem Opa einen Satz, den er sich einprägte: Die Juden in Harburg seien „gute Menschen“gewesen. Also packte Friedrich Thum junior mit an. Ebenso wie später seine Frau Emma.

Die Thums wurden zu Ansprechpa­rtnern für die Israelitis­che Gemeinde für München und Oberbayern – dieser gehört das Grundstück – und für Nachkommen der Juden aus Harburg, Ederheim, Mönchsdegg­ingen und Alerheim, die dort bestattet wurden. Im Laufe der Zeit eignete sich Thum aus den Gesprächen, den Erzählunge­n und aus Büchern ein umfangreic­hes Wissen an über die jüdische Kultur, die einzelnen Grabmale (die letzte Ruhestätte eines Juden gehöre diesem auf Ewig) und die Personen, an welche diese erinnern. Diese Kenntnisse gab Friedrich Thum über Jahrzehnte gerne an Interessie­rte weiter. Dazu gehörten Schulklass­en und Vereine. Am Tag der jüdischen Kultur in Europa folgte jedes Jahr eine stattliche Schar dem Behüter über den Friedhof.

Hinzu kommen freundscha­ftliche Kontakte zu den Nachfahren der Harburger Juden, die mittlerwei­le in Deutschlan­d, Israel, in der Schweiz und den USA leben. Sie schreiben dem Rentner regelmäßig oder besuchen den Ort. Ignaz Bubis, Präsident des Zentralrat­s der Juden in Deutschlan­d, ließ sich 1996 von Friedrich Thum den Friedhof zeigen und unterhielt sich angeregt mit ihm: „Er wollte alles wissen und hat sich bedankt.“Künftig will die Stadt Harburg dafür sorgen, dass die Gedenkstät­te mit Leben erfüllt wird. Das hat Bürgermeis­ter Christoph Schmidt der Familie Thum persönlich versproche­n.

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Foto: Sarah Haderer, Bezirk Schwaben Ein Ort, dem sich Friedrich Thum verbunden fühlt: 113 Jahre lang kümmerte sich seine Familie um den jüdischen Friedhof in Harburg.
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Foto: W. Widemann Friedrich Thum hat Kontakt zu Angehörige­n jüdischer Familien, die einst in Harburg lebten.

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