Das Problem mit dem Bilderschatz
Im Nachlass des Augsburger Hoffotografen Konrad Reßler fanden sich einst sensationelle Brecht-Fotos – und später noch über 40.000 Porträts der Gesellschaft. Seitdem lagern die im Stadtarchiv. Ließe sich daraus nichts machen?
Ist das nun ein so großer wie unbezahlbarer, aber doch seit Jahren brach liegender Schatz zur Augsburger Gesellschaftsgeschichte? Oder ist es einfach eine riesige, nur ziemlich teuer zu erfassende und in der Folge dann doch kaum zu erschließende Datenmenge? Romantische Vorstellung gegen nüchterne Bestandsaufnahme: Bei Bildern entscheidet die Art des Blicks auf sie ja immer mit, was zu sehen ist – aber besonders bei diesen.
Rund 42.000 Fotos waren es, die der Münchner Literatur-Historiker Dirk Heißerer vor bald neun Jahren auf einem Dachboden der Augsburger Bahnhofstraße entdeckt hatte, zurückgeblieben vom dort von 1890 bis 1950 ein Atelier führenden Hoffotografen Konrad Reßler. Was für den Blick darauf Eindeutigkeit brächte: Wären darunter weitere Sensationen wie jene 32 Porträts von Bertolt Brecht im Ledermantel, die bereits 1984 in jenem Nachlass gefunden wurden?
Aber auch für den Fall, dass nicht, dass all die Porträts bloß ganz normale Menschen von einst zeigten, hatte Heißerer damals bereits eine Perspektive: „Wenn die Bilder gesichtet und gescannt sind, ließe sich eine gigantische Datenbank erstellen, in der die Augsburger selbst sich zu Hause vor dem PC auf die Suche nach ihren Ahnen machen könnten. Das Bildgedächtnis der Stadt Augsburg würde auf eine Weise zugänglich, für die es keine Vergleiche gibt.“
Ähnlich formulierte es nun Michael Koetzle, Publizist, Fotohistoriker und Ausstellungsmacher aus München: Damals hatte er die Brecht-Porträts gefunden, nun sprach er im Brecht-Haus über Möglichkeiten im Umgang mit dem Restnachlass – auf Einladung von Buchhändler Kurt Idrizovic, den umtreibt, dass von den 42.000 Glasplatten-Bildern, die seit ihrer Entdeckung im Augsburger Stadtarchiv lagern, so gar nichts mehr zu hören und zu sehen war. Koetzle also sagte, die Stadt möge „sich diesen Schatz auch als Schatz“aneignen und konnte sich vielerlei vorstellen: Ein Plakatieren der
Aufnahmen in Serien samt einer Frage, ob jemand jemanden darauf erkenne; aber auch eine Ausstellung, die die Gesichter der Stadtgesellschaft um jene von Brecht arrangiert. Und womöglich komme bei Durchsicht auch noch mehr in Sachen Brecht auf die Spur, Familienaufnahmen etwa, nachdem bei Reßler ja auch schon Bertolt als Baby auf einem Bärenfell zu sehen gewesen sei … Das ist die romantische Vorstellung.
Die nüchterne Bestandsaufnahme aber trugen vom Augsburger Stadtarchiv an diesem Abend bei: Stadtdirektorin Dr. Melanie Haisch und Archivrat Dr. Dominik Feldmann. In diesem Nachlass hätten sich nur 411 Aufnahmen mit Beschriftung gefunden, jene nämlich, die bekanntere Gesichter zeigten, den damaligen Bürgermeister etwa, aber allein rund hundert Fotos von Weihbischof Eberle. Ein mit „Brecht“beschrifteter Karton haben sich zwar gefunden, aber das enthaltene Foto von Bertolts Bruder Walter sei bereits veröffentlicht. Der Rest der Bilder (von denen Feldmann angab, „eine niedrige vierstellige Zahl“bereits genauer gesichtet zu haben) sei lediglich in der Folge ihrer Entstehung nummeriert, reiche nicht weiter zurück als bis 1925 und zeige „relativ eindimensional“Menschen, die sich chic gemacht hätten für den Porträtfotografen, womöglich gar nicht aus der Stadt selber stammend, sondern auch sonntags aus dem Umland angereist oder aus ganz Schwaben auf Durchreise. Ein Meer an Gesichtern, in das nur „wahnsinnig schwierig“Bezüge zu bringen sei also. So schön und interessant die Aufnahmen wirkten, Universität wie Textilmuseum hätten bei Vorgesprächen zu historischer oder modischer Relevanz abgewunken. Eine Erschließung des Nachlasses jedenfalls könne das Stadtarchiv nicht leisten – und zudem stelle sich ja auch die Frage der Kosten.
An diesem Abend gleich konkret an die Nürnberger Firma CDLab gestellt, die auf die Digitalisierung spezialisiert ist, über ihre Arbeit Auskunft gab und eine erste Hausnummer nannte: bei Fotos ohne Schäden und größeren Reinigungsoder Nachbearbeitungsbedarf etwa 1,50 Euro pro Aufnahme. Das wären mehr als 60.000 Euro, also für die Digitalisierung dieses Teils des Reßler-Nachlasses. Und das bei, so die Vertreter des Stadtarchivs, zweifelhafter Lage, wer sich für solche Massen an digitalisiert veröffentlichten Fotos wirklich interessieren sollte … Der Tod des romantischen Blicks?
Noch lange nicht. Koetzle berichtete von ähnlichen Fällen zwischen Neuburg und Washington, in denen solche Funde komplett gesichtet, aber nur ausgewählt und mit Konzept veröffentlicht wurden – und Idricovic verlas eine Stellungnahme von Heimatpfleger Christoph Lang, wonach sich der Bezirk gerne beteiligen würde. Nur zum Beispiel. Oder auch die Stadtsparkasse? Es hänge, so der heimatengagierte Buchhändler am Obstmarkt, davon ab, endlich zu beschließen, was man mit dem sonst nur lagernden Befund anfangen wolle. Letztlich eine ebenso wenig bloß archivarisch nüchterne wie romantisch ästhetische Entscheidung – sondern eine wohl durchaus politische. Übrigens auch, was den Inhalt angeht. Denn die Menschen dieser Stadt in den Jahren ab 1925 in durchaus künstlerischen Schwarz-Weiß-Aufnahmen zurück in diese zu bringen – das zeigte nicht selten auch Uniform. Oder will man die dann weglassen?