Conrad Ferdinand Meyer: Der Heilige (30)
Novelle von C. F. Meyer
England im Hochmittelalter: Unverzichtbare rechte Hand für König Heinrich II. ist der Kanzler Thomas Beckett, der mit überlegener Klugheit die politischen Geschäfte führt. Als der sinnenfrohe König jedoch durch einen Zufall die ihm bisher verborgen gebliebene Tochter Becketts entdeckt und sie verführt, nimmt das Unheil seinen Lauf…
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Er hat vor meinem Könige diese Frage häufig erörtert. Daß aber etwas von dem Meinigen beifloß, ist nicht unmöglich, denn leider beten wir alle dieselbe Litanei, sobald auf die Sitten der Pfaffheit die Rede fällt – natürlich mit gebührender Ausnahme Eures Stiftes und noch mehr Eurer eigenen ehrwürdigen Person.
Gesetzt aber auch, meine Geschichte wäre etwas ins Ungewisse geraten, von jetzt an wird sie echt und unumstößlich wie das Evangelium.
Denn was nun geredet wurde, haftet in meinem grauen Kopfe wie die römische Schrift auf einem umgestürzten Meilenstein, dessen Bruchstücke noch die unauslöschlich eingegrabenen Lettern tragen. Bei der Gnade der Mutter Gottes, ich rede die Wahrheit und lüge nicht. Wo aber stand ich, ehrwürdiger Herr, als Ihr mich unterbrochen habt?“
„Bei deinem lasterhaften Abte“, versetzte der Alte noch etwas gereizt.
„Zweifelt nicht daran, daß der Kanzler ihn empfohlen hat!“fuhr Hans mit Feuer fort.
„,Mein König‘, sagte Herr Thomas, ,diesem tierischen Menschen wird es nicht gelingen, die Rechte seines Stuhles als göttliche zu verteidigen. Du wirst sie ihm entreißen – und dann: weg mit ihm!‘
Er stieß diese Worte verachtungsvoll von seinen feinen Lippen und fügte hinzu: ,Der Unreine wird sich überdies selbst zerstören. Begnügt er sich doch nicht, o Herr, wie deine anderen Bischöfe, Buhlerinnen
zu halten, sondern überfällt und verdirbt die unschuldige Jugend.‘
Ich meine, daß der Kanzler nur jenen landkundigen Sünder im Sinne hatte; aber unversehens mußte ich an Gnade denken, und auch der König bewegte sich unruhig. Doch schnell überwand er die Scham und verwarf diesen Verdacht, wußte er doch, daß Herr Thomas es verschmäht hätte, sein Inneres durch eine Anspielung zu enthüllen.
In der hellen Laune eines Freigebigen, der im Begriffe steht, ein großes Geschenk zu machen, und mit freudestrahlenden Augen fuhr der König fort:
,Wohin denkst du, Thomas? Diesen Stuhl, worin zwei Heilige und Gelehrte gesessen haben, von denen der eine, der selige Lanfranc, den die Wandlung leugnenden Ketzer Berengar besiegt, der andere, St. Anselm, einen triumphierenden Beweis für das Dasein Gottes geführt hat, diesen Stuhl sollte ich mit einem Schweine besetzen?
Das bleibe ferne von meinem königlichen Willen!‘ Und mein Herr und König freute sich seines Wissens.
In der Miene des Kanzlers war die vorwurfsvolle Frage zu lesen, ob ihm Herr Heinrich durch eine plötzliche Laune lang erwogene Pläne durchkreuzen werde.
Der König ergriff seinen Becher und leerte ihn fröhlich. ,Ich will meinen Pfaffen einen Primas setzen, darob sie sich wundern werden, einen Mann von vornehmer und unbefleckter Sitte, einen spitzfindigen Philosophen und dazu einen mir ergebenen Mann und geborenen Gegner des päpstlichen Wesens.‘ Herr Thomas aber erwiderte mit einem ungläubigen Lächeln: ,Ich lasse meine Blicke, o Herr, durch deinen Klerus wandern, aber sie suchen deinen Erwählten vergebens.‘
,Du errätst nicht?‘ drängte der König, ,ich will dir zu Hilfe kommen! Ich sage dir, wahrlich keiner wird auf dem Stuhle des Primas sitzen als du!‘
Der Kanzler blieb ruhig, aber in allmählichem Erblassen wich jede Farbe aus seinem Antlitz. Er lehnte sich in seinen Sessel zurück. Dann wendete er, den Anblick des Königs vermeidend, seine dunkeln Augen seitwärts zu mir.
Mit zwei Fingern seiner lässig herabhängenden Rechten hob er eine Falte seines Purpurgewandes langsam in die Höhe, so daß die zurückgebogenen Schnäbel seiner köstlichen Schuhe sichtbar wurden.
,Bogner‘, scherzte er und streifte mit einem verächtlichen Blicke seine von Edelsteinen schimmernde Kleidung, ‘beschaue dir einmal den heiligen Mann!… Diesen Täufer Hans, der die weichen Kleider verschmäht, die man an den Höfen der Könige trägt – betrachte dir diesen guten Hirten, der das verirrte Lamm auf den Schultern heimholt und sein Leben läßt für die Herde.‘
Der König stieß ein grelles Gelächter aus – mir aber ward übel dabei zumute.
Inzwischen hatte sich der Kanzler mit kaltem Angesichte gegen den König gewendet. ,Hoheit‘, sagte er, ,diese Wahl ist nicht dein Ernst. Sie ist eine unmögliche in den Augen deiner Bischöfe, deiner Normannen und deiner Sachsen. Soll der englische Klerus, als seinem Vater, einem geschmeidigen Höfling gehorchen, weil dieser einmal in seiner Jugend durch Zufall oder um eines Vorteils willen die erste Weihe empfangen hat – soll ein Sachse die Seelen deiner Normannen oder ein Abtrünniger – wie sie ihn nennen – die Seelen deiner Sachsen weiden? Herr, dein Kanzler widerrät dir diese schlechte Wahl.‘
,Sie ist die vortrefflichste‘, behauptete Herr Heinrich hartnäckig.
,Du auf dem Stuhl von Canterbury, und der Thron St. Petri kracht in seinen Fugen; du unter der Mitra, und dem Heiligen Vater wackelt die seinige auf dem Kopfe! Schach und Schachmatt!‘