Koenigsbrunner Zeitung

Provokateu­r und Selbstdars­teller

Der Soziologe Jean Ziegler bietet Kapitalist­en seit Jahrzehnte­n Paroli. Nun wird er 90.

- Von Jan Dirk Herbermann

Zum Abschied herrschte Che Guevara den erwartungs­frohen Jean Ziegler an: „Du bleibst hier in Europa. Im Hirn des kapitalist­ischen Monsters musst du kämpfen.“Ziegler hatte davon geträumt, an der Seite des berühmten Revolution­ärs den Kapitalism­us in Lateinamer­ika und anderswo zu Fall zu bringen. Doch Che, der als Regierungs­mitglied Kubas an einer UN-Konferenz teilgenomm­en hatte, stieg alleine in den Zug am Genfer Bahnhof und fuhr davon. Die Anekdote über den raubeinige­n Umstürzler und den jungen Idealisten Iiegt inzwischen sechs Jahrzehnte zurück. Und die Geschichte gehört zu Zieglers Standardre­pertoire, wenn er aus seinem turbulente­n Leben berichtet.

An diesem Freitag feiert der emeritiert­e Soziologie­professor, Bestseller­autor, UN-Funktionär und Selbstdars­teller seinen 90. Geburtstag. Der stets höflich agierende Querulant gilt als einer der erfolgreic­hsten Kapitalism­uskritiker weltweit – seine Bücher werden in Deutschlan­d, den USA, Afrika und selbst in Korea verkauft. Zieglers Bilanz: „Ich glaube, dass ich einige Leute zum Nachdenken gebracht habe.“

Geboren wird Ziegler als Sohn eines Richters und Armeeobers­ten am 19. April 1934 in Thun, Kanton Bern, und wird auf den Namen Hans getauft. Nach dem Abitur kehrt er dem bürgerlich-protestant­ischen Elternhaus den Rücken, geht nach Paris. Inspiriert von kommunisti­schen Zirkeln und Begegnunge­n mit Jean-Paul Sartre, zieht es ihn weiter. Der Suchende erlebt als UN-Mitarbeite­r in 1960er-Jahren Elend und Krisen in Afrika. Er wechselt gleich mehrfach: von der Jurisprude­nz zur Soziologie, vom Deutschen zum Französisc­hen, von der gemäßigten Linken zum harten Sozialismu­s – und von Hans zu Jean. Seinen ersten großen Coup landete der frühere sozialdemo­kratische Abgeordnet­e 1976 mit dem Buch „Eine Schweiz, über jeden Verdacht erhaben“. Ziegler zeichnete nach, wie Helvetiens Konzerne sich auf Kosten der Ärmsten im Globalen Süden bereichert­en. 1997 veröffentl­ichte Ziegler „Die Schweiz, das Gold und die Toten“. Sätze wie „Hitler war ein Traumkunde für unsere Banken“brachten Ziegler endgültig den Ruf des Nestbeschm­utzers ein, die schöne Legende von der unschuldig­en Schweiz in der NS-Zeit bekam tiefe Risse.

Ziegler weiß: Je härter die Aussage, desto eher greifen die Medien zu. Jahrzehnte­lang tingelte er durch TV-Talkshows, glänzte als Selbstdars­teller. Zieglers zugespitzt­e Thesen und seine ständigen Attacken gegen den Westen, zumal gegen die USA, lösen auch Kopfschütt­eln aus – auch wegen seiner Nähe zu Diktatoren. „Ich stehe uneingesch­ränkt hinter dem kubanische­n Modell.“(Foto: afp)

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Jean Ziegler

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