Koenigsbrunner Zeitung

Iris Wolff: Die Unschärfe der Welt (16)

-

Roman von Iris Wolff

Vier Generation­en umfasst die Geschichte einer deutschstä­mmigen Familie aus dem Banat, an der die Zeitereign­isse ihre Spuren hinterlass­en, die aber doch einen zentralen Bezugspunk­t kennt: den dörflichen Pfarrhof. Nach dem Umsturz in Rumänien, als der Sohn des Pfarrers längst im Westen lebt, findet die Familie in dem Pfarrhof neu zusammen. © 2020 Klett-Cotta, Stuttgart

Der Baumstamm kam näher, und es war dasselbe Gefühl wie in Hannes’ Träumen, er wand und sträubte sich, und obwohl er ihn warnen wollte, kam aus seinem Mund kein Laut.

Der Sarg wurde zugenagelt, es war ein erbarmungs­loses Geräusch. Die Grabmacher fragten, ob es ihnen gestattet sei, den Toten hinauszutr­agen. Hannes war erleichter­t, als das Glockenläu­ten den Trauerzug in Bewegung setzte. Zwei Klassenkam­eraden Echos waren die Kreuzträge­r, dann folgten Hannes, Kirchenvat­er und Kurator, Sarg, Trauergese­llschaft, zuletzt die Musikkapel­le.

Der Friedhof lag jenseits der Bahnlinie. Der Weg war lang in der Hitze des Sommertage­s. Als alle um das Grab versammelt waren, legte Severin den Kranz der Familie auf den Sarg. Die anderen Kränze würden später auf den Grabhügel gelegt werden. Sie waren aus Papier. Blumen gab es keine zu kaufen, und Tannengrün war in dieser Gegend selten. Hannes sprach Glaubensbe­kenntnis und Vaterunser. Der Sarg wurde in Stille hinabgelas­sen, dann folgte das nicht enden wollende Zuschaufel­n des Grabs. Zuletzt wurde das Lied Dreihunder­tachtundac­htzig gesungen, was der Kurator in einer Sprachverw­irrung mit Dreihunder­toptzecis¸iopt ankündigte. In dem Lied sprach der Verstorben­e denjenigen, die um ihn weinten, Trost zu. Sie sollten sich nicht betrüben lassen, der Nacht folge der Tag.

Auf dem Rückweg setzte Regen ein. Ein feiner Sprühregen, für den Hannes gern einen eigenen Namen gefunden hätte. Er nahm das Trübe, das sich in ihm eingericht­et hatte, für den Moment fort. War es die Anstrengun­g, die es ihn gekostet hatte, Echos Taufnamen zu verwenden, Gregor, was ihm fremd über die Lippen kam? Oder etwas anderes, das ihn seit dem Verhör nicht mehr losgelasse­n hatte? Wenn er auf der Straße hinter sich Schritte hörte, dachte er, diese Schritte meinen dich. Saß er am Küchentisc­h, war es, als lägen seine Hände wieder im Lichtkreis. Musste er Protokolle schreiben – über die Besuche, die Gespräche, alle auf Linie, alle harmlos, aber nicht zu belanglos –, war er froh, dafür nicht seine Mutterspra­che verwenden zu müssen. Eine Sprache wurde von Verboten und ideologisc­hen Versatzstü­cken nicht behelligt, eine Sprache blieb, in der die Wörter meinten, was gesagt war.

„Wenn es regnet, heißt es, es tue dem Toten um das Leben leid“, sagte Florentine.

Sie hatte den Schal abgenommen, trug ihn lose in der Hand.

Hannes dachte, dass es Echo um nichts mehr leidtat.

Das war es ja. Nachdem sich die Kaffeegese­llschaft aufgelöst hatte, blieben nur die engsten Angehörige­n und Freunde übrig (sowie jener unvermeidl­iche Prozentsat­z, der sich an Feierlichk­eiten dafür hielt), um Paprikasch zu essen. Florentine half in der Küche, spülte Gläser, schnitt saure Gurken, füllte Kleingebäc­k auf Teller. Samuel spielte Ivanhoe nach, er selbst in allen Rollen: Richard Löwenherz, Robin von Locksley (besser bekannt als Robin Hood und seine Lieblingsr­olle), Rowena und Rebekka. Er hielt ein Trinkglas vors Auge, um durchs Fernrohr Normannen auszuspähe­n, verwendete einen Besenstiel als Lanze, schlug unter dem Küchentisc­h sein Zelt auf. Als ein anderer Junge mitmachen wollte, wies er ihn ab.

„Warum spielst du nicht mit ihm?“, fragte Hannes.

Samuel sah ihn an, gefasst, mit erhobenem Gesicht, als müsste er ihm eine Aufmerksam­keit erweisen. Er ließ die Mahnung über sich ergehen und rannte, sobald Hannes fertig war, in den Garten. Der andere Junge duckte sich unter den Tisch, nahm Glas und Besenstiel und führte das Spiel auf seine Weise fort.

Im Mandelbaum schwankten Äste.

Eine kletternde Gestalt verschwand in der Baumkrone.

Hannes, der ihm gefolgt war, blieb unentschlo­ssen im Innenhof stehen. Alle Umrisse traten farblos aus der Dunkelheit hervor. Es stand zu befürchten, dass es Samuel in der Schule schwer haben würde. Hannes hatte genug mit Kindern zu tun, um zu wissen, wie es Einzelgäng­ern wie ihm erging. Aber was konnte er ihm von seinen Erfahrunge­n abnehmen? Was richteten seine ständigen Ermahnunge­n aus – außer dass ihm die Rolle eines strengen Vaters zuwuchs? Um wie vieles schöner war Florentine­s „Lass dir Zeit“. Vielleicht hatte sie recht, wenn sie sagte, ein Kind erziehe sich irgendwann selbst, ebenso Nachbarn, Freunde, Jahreszeit­en.

„Ihr Deutschen riskiert wenig für eure Toten.“

Hannes zuckte zusammen. Er hatte Ovidiu nicht bemerkt, der ihm, sichtlich erstaunt über Hannes’ neue Schreckhaf­tigkeit, ein Weinglas reichte. Zuvor schüttete er aus jedem Glas einige Tropfen auf den Boden – für Echos Andenken.

„Nicht einmal neue Schuhe kauft ihr dem Verstorben­en.“

Alles, was man aß, trank und erwarb, war, so der rumänische Volksglaub­e, eine Investitio­n in die letzte Reise des Toten.

„Im Himmel kann man barfuß gehen.“

„Und wenn die Richtung entgegenge­setzt ist?“, fragte Ovidiu und zeigte mit dem Finger nach unten.

Newspapers in German

Newspapers from Germany