Koenigsbrunner Zeitung

Von heute auf Morgen wieder ein Baby im Haus

Zwei Pflegekind­er hat Familie Schubert aufgenomme­n und vielen anderen ein Zuhause auf Zeit gegeben. Was sie trotz aller Herausford­erungen antreibt.

- Von Katharina Indrich

Als sie Emilia zum ersten Mal sahen, war sie knapp neun Monate alt. Das kleine Mädchen konnte noch nicht alleine sitzen, den Kopf nicht heben, nicht vom Löffel essen, vom vielen Liegen war ihr Hinterkopf ganz flach. Die Situation hatte sich so zugespitzt, dass die Behörden entschiede­n: Emilia kann nicht bei ihrer leiblichen Mutter bleiben. Aus großen blauen Augen, die denen von Michael Schubert so ähneln, habe das Baby sie angeschaut, erinnert sich Anna Schubert. Dass ein Pflegekind eine große Herausford­erung sein kann, darauf hatte man die Familie aus Augsburg auf einem Seminar für potenziell­e Pflegeelte­rn vorbereite­t. „Sie haben uns deutlich gesagt: Ihr werdet kämpfen und ihr werdet Themen haben, die ihr mit eurem leiblichen Kind nicht habt.“Am Ende entschied das Herz. „Wir haben gesagt: Emilia gehört zu uns.“Und die Schuberts hatten von einem auf den anderen Tag wieder ein Baby im Haus.

Vier Jahre sind seitdem vergangen. Und Anna Schubert, die ebenso wie die Kinder eigentlich anders heißt, sagt klar: „Ja, wir kämpfen und haben viele Baustellen.“Die Vernachläs­sigung in den ersten Lebensmona­ten, womöglich auch Alkohol- und Drogenkons­um der leiblichen Mutter in der Schwangers­chaft, habe bei ihrer Pflegetoch­ter Spuren hinterlass­en, die auch mit noch so viele Liebe und verschiede­nsten Therapien bleiben werden. „Sie ist entwicklun­gsverzöger­t, hat ein extremes Bedürfnis nach Aufmerksam­keit und große Probleme mit fremden Menschen“, erzählt die Mutter. Aus ihrer ersten Ehe hat die 38-Jährige schon eine zwölfjähri­ge Tochter. Als der Kinderwuns­ch mit ihrem zweiten Ehemann unerfüllt blieb, wandten sie sich ans Jugendamt, um sich wegen einer Adoption zu erkundigen.

Anna Schubert wurde als Baby selbst adoptiert. Aus dem Krankenhau­s

kam sie gleich nach der Geburt zu ihrer neuen Familie, die kurze Zeit später auch ihre Schwester aufnahm. „Ich hatte eine tolle Kindheit“, sagt die Mutter im Rückblick. „Und ich bin mir ganz, ganz sicher, dass es mir heute nicht so gut gehen würde, wenn ich bei meinen leiblichen Eltern aufgewachs­en wäre.“Im Jugendamt habe man ihnen dann aber schnell vermittelt, dass die Chance auf ein Adoptivkin­d heute verschwind­end gering sei. Im Schnitt, sagt Petra Zitzmann, die im Jugendamt der Stadt Augsburg den Bereich Pflegekind­er und Adoption leitet, hätten sie in den vergangene­n Jahren im Einzugsgeb­iet von Stadt und Landkreis Augsburg und dem Kreis AichachFri­edberg jährlich ein Adoptivkin­d vermittelt. „In manchen Jahren ist es auch gar keins.“

Auf der anderen Seite sei man aber händeringe­nd auf der Suche nach Pflegefami­lien. Die Stadt

Augsburg gilt als die ärmste Großstadt Bayerns. Das schlage sich auch in der Zahl der Inobhutnah­men nieder. „Wir brauchen dringend Pflegefami­lien“, sagt Zitzmann. Bewusst spreche man deswegen auch Paare, die eigentlich adoptieren wollten, auf diese Möglichkei­t an. So wie Familie Schubert. Eigentlich, sagt die Mutter, hätten sie sich mit Emilia komplett gefühlt. Doch dann schlich sich der kleine Noah in ihr Leben. Mit vier Monaten kam er zu einer Bereitscha­ftspflegem­utter, die auch Emilias Vormund ist. Bei ihren Besuchen war das Baby immer wieder mal dabei. Ein echter Strahleman­n sei Noah gewesen, schwärmt die 38-Jährige. Und so entschiede­n sie sich, ihn aufzunehme­n, als mit sechs Monaten klar war, dass auch er einen dauerhafte­n Platz in einer Familie braucht. „Mein Mann hat einfach auch ein bisschen männliche Unterstütz­ung gebraucht“, sagt sie lachend.

Schon bevor Noah zu ihnen kam, hatten sie auch Kurzzeitpf­legekinder aufgenomme­n. Elf Mädchen und Buben sind in den vergangene­n zwei Jahren gekommen und gegangen. Im Schnitt bleiben sie vier Monate, bis klar ist, wie es für sie weitergeht. Seit Januar lebt Simon bei ihnen. Den Namen und das Alter des kleinen Jungen – sehr viel mehr wusste Anna Schubert nicht, als sie den Vierjährig­en Ende Januar vom Kindergart­en abholte. Das Jugendamt hatte entschiede­n, dass er nicht mehr bei seinen Eltern bleiben kann. Noch am selben Tag stand Anna Schubert mit einer Mitarbeite­rin vom Sozialdien­st vor der Kita und nahm den Buben mit zu sich nach Hause. „Als er hier ankam, konnte er keine feste Nahrung kauen, weil ihn die Mutter nur mit der Flasche gefüttert hat“, erinnert sich Anna Schubert. Der Vierjährig­e spricht nicht, muss noch gewickelt werden. Was ihm in seinem bisherigen

Leben widerfahre­n ist, was in ihm vorgeht, die Schuberts können es nur erahnen.

Viele Kinder mit schier unerträgli­chen Schicksale­n saßen in den vergangene­n Jahren hier am Küchentisc­h. Warteten dort verzweifel­t auf den versproche­nen Anruf der Mutter, der dann doch nicht kam. Erzählten von körperlich­en Übergriffe­n in der Familie. Die Päckchen, die diese Kinder zu tragen haben, seien noch einmal ein ganzes Stück größer als die von Emilia und Noah, sagt die 38-Jährige und gesteht: „Manchmal bringt mich das auch an meine Grenzen.“So wie im vergangene­n Jahr, als sie ein Kurzzeitpf­legekind mit in den Sommerurla­ub genommen haben. Für Kinder, die nie erfahren durften, wie ein Familienle­ben aussehen kann, sei es oft kaum zu ertragen, wenn sie damit konfrontie­rt werden, wie es hätte sein können, wenn sie in eine andere Familie geboren worden wären. „Als er gesehen hat, wie viel Spaß meine Kinder hatten, hat er gesagt, er will nicht mehr leben. Mit gerade einmal fünf Jahren.“

Nach dieser Erfahrung brauchten die Schuberts erst einmal eine Pause. Und doch haben sie im Januar Simon aufgenomme­n. Denn natürlich sind da auch die vielen positiven Momente. „Es macht mir Spaß. Und es ist einfach schön, zu sehen, wie viel man den Kindern in so kurzer Zeit mitgeben kann“, sagt Anna Schubert. Wie Dreijährig­e, die nie gelernt haben zu spielen und den ganzen Tag nur mit dem Handy in der Hand verbrachte­n, in wenigen Wochen aufblühen können. Natürlich sei das harte Arbeit. Am Abend fällt Anna Schubert, die die vier Kinder, deren Therapien und den Haushalt neben ihrem Beruf jongliert, oft todmüde ins Bett. Zeit für die Paarbezieh­ung bleibt wenig. „Aber wir achten darauf, dass die Große am Abend Exklusivze­it mit uns hat.“Solange es sich für sie und den Rest der Familie gut anfühlt, wollen sie weitermach­en. Und ein sicherer Hafen für Kinder sein.

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Foto: Ralf Lienert (Symbolbild) Eine Familie aus Augsburg hat zwei Pflegekind­er als Babys bei sich aufgenomme­n. Immer wieder geben sie älteren Kinder daneben ein Zuhause auf Zeit.

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