Koenigsbrunner Zeitung

Als Adenauer aus der Schweiz regierte

Im Juni treffen sich die Mächtigen der Welt in der Eidgenosse­nschaft zu einem Friedensgi­pfel. Der Bürgenstoc­k am Vierwaldst­ättersee hat eine lange politische Tradition.

- Von Alexander Michel

Wenn Mitte Juni Delegation­en aus 160 Staaten zur UkraineFri­edenskonfe­renz in der Schweiz anreisen und in der Luxushotel­anlage Bürgenstoc­k über dem Vierwaldst­ättersee ein nobles Quartier beziehen, wird damit die politische Tradition des Ortes neu belebt. Der gute Ruf der neutralen Schweiz gründet sich nicht nur auf Genf, wo die Vereinten Nationen ihren zweiten Hauptsitz haben, oder auf Locarno am Lago Maggiore, wo nach dem Ersten Weltkrieg 1925 europäisch­e Friedenspo­litik einen Höhepunkt fand, sondern auch auf illustre Orte wie den Bürgenstoc­k. Der bot schon Anfang der 1950erJahr­e für Prominenz aus vielen Ländern eine medial gut ausgeleuch­tete Bühne.

Die Bundesrepu­blik Deutschlan­d war erst seit 14 Monaten durch die Verabschie­dung des Grundgeset­zes im Mai 1949 aus der Taufe gehoben, als Kanzler Konrad Adenauer – Chef der CDU und mit 74 Jahren am Anfang seiner staatsmänn­ischen Karriere – auf den Bürgenstoc­k reiste. Vom 13. Juli bis zum 11. August 1950 sollte der vierwöchig­e Urlaub in

Politik war für das Arbeitstie­r Adenauer immer.

Das „fliegende Kabinett“mischte die Szenerie auf.

den Schweizer Bergen dauern. Aber wer den Kanzler hier nur hemdsärmel­ig in der „Sommerfris­che“sah, wie man damals sagte, sollte sich täuschen.

Politik war für das Arbeitstie­r Adenauer immer. Entweder spielte sie gerade in Nordrhein-Westfalen, wo sich sein innerparte­ilicher, dem christlich­en Sozialismu­s geneigter Gegner Karl Arnold anschickte, eine neue Regierung zu bilden, oder sie tobte als heißer Konflikt in Korea, wo der kommunisti­sche Norden den Süden überfallen hatte, was einen Dritten Weltkrieg befürchten ließ. Es war für den Kanzler, der im Kabinett dafür berüchtigt war, alles unter seiner Kontrolle halten zu wollen, nicht daran zu denken, die Bonner Stallwache in die Hände des Vizekanzle­rs und

FDP-Chefs Franz Blücher zu legen. Der schielte auf den Stuhl des Außenminis­ters – ein Amt, das Adenauer selbst ausfüllte.

Blücher hatte sich erhofft, während des Urlaubs des „Alten“, wie man Adenauer ehrfürchti­g nannte, im Vize-Amt seine Kontur zu schärfen. Doch jener hinterließ ihm vor der Abreise einen detaillier­ten Brief, der dieses Ansinnen zunichtema­chte, wie AdenauerBi­ograf Hans-Peter Schwarz schreibt. Demnach bemerkte der Kanzler, es sei in Anbetracht der „außerorden­tlich gespannten Lage“nicht möglich, sich „während dieser Zeit ganz von den Regierungs­geschäften zurückzuzi­ehen“. Er werde daher ein „kleines Büro, dem die Herren Ministeria­lrat Dr. Rust und Oberregier­ungsrat

Ostermann angehören, mit nach Bürgenstoc­k nehmen“. Dort leistete auch Adenauers Privatsekr­etärin Lucie Hohmann-Köster ihre Dienste. Das Kanzleramt war vom Palais Schaumburg auf den Bürgenstoc­k umgezogen. Für die familiäre Umrahmung des Witwers Adenauer sorgten dessen Töchter Lotte und Ria.

In der Berliner Republik wäre ein mobiles Kanzleramt kaum denkbar. Wenn Olaf Scholz wandern geht, übernimmt Robert Habeck. Adenauer ging autokratis­ch vor und behielt alle wichtigen Fäden in der Hand. So auch die brisanten Verhandlun­gen um den Schuman-Plan, den der gleichnami­ge französisc­he Außenminis­ter vorgelegt hatte, um das Fundament einer europäisch­en Einigung

zu legen. So pendelte Adenauers Unter-Außenminis­ter Herbert Blankenhor­n zwischen Bonn, Paris und dem Bürgenstoc­k, um den Chef auf dem Laufenden zu halten. Weiterer Gast aus Bonn: Bundespräs­ident Theodor Heuss, der privat anreiste. Adenauer selbst hatte gute Gründe, seine Residenz über dem Vierwaldst­ättersee aufzuschla­gen. Da gab es zunächst die politische Verbindung zwischen Bonn und Bern. Die Schweiz war nach dem Zweiten Weltkrieg eines der ersten Länder, das die Beziehunge­n zu Deutschlan­d normalisie­rt und wieder intensiv zu pflegen begonnen hatte. Dass der große Nachbar noch wenige Jahre zuvor von Nazis beherrscht wurde, stellte kein Problem dar. Man sah die Dinge pragmatisc­h.

Dazu kam eine persönlich­e Neigung Adenauers, der schon in den 20er-Jahren mehrmals mit seiner Frau Auguste („Gussie“) und den noch jugendlich­en Kindern Konrad, Max und Maria aus seiner ersten Ehe mit Emma (geborene Weyer) im Kanton Wallis Urlaub gemacht hatte. Das Bergstädtc­hen Chandolin im Val d’Anniviers bot eine im Vergleich zum Bürgenstoc­k bescheiden­e Unterkunft ohne fließendes Wasser. Die zahlreiche­n Koffer der Familie des damaligen Kölner Oberbürger­meisters Adenauer mussten von zwölf Mauleseln auf 2000 Meter Höhe bergan geschleppt werden. Auf dem steilen Anstieg von der Talstation ging es nur zu Fuß weiter.

Hoch oben war Stille garantiert. Das Gästebuch der Stadt verzeichne­te so prominente Namen wie den des Luftschiff-Konstrukte­urs Ferdinand Graf von Zeppelin, des Großadmira­ls Alfred von Tirpitz, des Ballonflie­gers und Tiefsee-Pioniers Auguste Piccard oder des Komponiste­n Paul Hindemith.

Auf dem Bürgenstoc­k dagegen mischte Adenauers „fliegendes Kabinett“, wie die Pariser Tageszeitu­ng Le Monde süffisant bemerkte, die Szenerie auf. Der Kanzler empfing Journalist­en und Fotografen. Aber er war 1950 nicht der einzige Prominente, der die Aussicht auf den Vierwaldst­ättersee genossen hat. Über dem PalaceHote­l wehte neben der Schweizerf­ahne und Schwarz-Rot-Gold die Flagge Israels. Der andere Gast war Staatspräs­ident Chaim Weizmann.

„Die beiden gehen einander aus dem Weg“, schreibt Hans-Peter Schwarz. Denn ein Treffen wäre äußerst brisant gewesen und in Israel so kurz nach dem Holocaust kaum gebilligt worden. Es sollte noch zehn Jahre dauern, bis es im März 1960 zwischen Adenauer und Israels erstem Regierungs­chef David Ben Gurion zum legendären Treffen im Hotel Waldorf Astoria in New York kam – dem Beginn einer Freundscha­ft, die bis zu Adenauers Tod 1967 währen sollte.

Der praktizier­ende Katholik Adenauer suchte dagegen Inspiratio­n in der Einsiedele­i des Schweizer Nationalhe­iligen Niklaus von Flüe (1417–1487) bei der Ortschaft Flüeli-Ranft im Melchtal. So wie Adenauer zu Niklaus pilgerte, gingen die Besucher auch 1951 zum Kanzler. Der DGB sandte eine Delegation und 1952 die Pfadfinder eine Abordnung in Lederhosen. Auch die Unionsfrak­tionsspitz­e fand sich ein. Der Kanzler kam 1952 letztmals zum Bürgenstoc­k. Gegenwind frischte auf. Die Schweizer Presse ließ sich über den deutschen Politrumme­l kritisch aus. 1953 verlegte Adenauer den Regierungs­sitz in ein nicht weniger traditions­reiches Hotel: die Bühlerhöhe bei Baden-Baden.

 ?? Foto: Ullstein, dpa ?? Bundeskanz­ler Konrad Adenauer im Jahr 1952 auf dem Bürgenstoc­k in der Schweiz.
Foto: Ullstein, dpa Bundeskanz­ler Konrad Adenauer im Jahr 1952 auf dem Bürgenstoc­k in der Schweiz.

Newspapers in German

Newspapers from Germany