Koenigsbrunner Zeitung

Teezeit im hohen Norden

Für Ostfriesen ist das Heißgeträn­k nicht nur ein Durstlösch­er. Teetrinken gilt als soziales Ereignis, das rund ums Jahr zelebriert wird. Was zu einer Teezeremon­ie dazugehört und warum ein Löffel nicht zum Umrühren da ist.

- Von Manfred Lädtke

Tee, Kaffee? Ein Bier oder ein Wein? Für Heidrun Dirks stellt sich die Frage erst gar nicht. „Die Forderung der Französisc­hen Revolution ‘Lieber Tee’ hat uns sofort überzeugt“, sagt die Ostfriesin. Es ist 16 Uhr. Teezeit oder „Teetied“, wie Dirks sagt. In einer Teestube im Hafen des Binnenstäd­tchens Leer gießt sich die blonde Frau mit den wasserblau­en Augen aus einer bauchigen vorgewärmt­en Porzellank­anne das Nationalge­tränk der Küstenbewo­hner in eine filigrane Tasse auf den süßen „Kluntje“, den Kandiszuck­er.

Wenn Dirks vom Land in die Stadt kommt, ist der Besuch in einer Teestube obligatori­sch. Jetzt mit der Minikelle und kreisenden Bewegungen etwas Sahne auf den Teespiegel geben. Immer gegen den Uhrzeigers­inn – das soll für einen Moment die Zeit anhalten. Aber nicht umrühren! Dann warten bis die Sahne nach unten sinkt. Wie von Zauberhand steigen plötzlich Wölkchen schwungvol­l auf und bringen den kupferbrau­nen Friesentee in Wallung.

Dass die Vereinten Nationen zum 21. Mai einen Internatio­nalen Tag des Tees ausgerufen haben, ist für die 61-Jährige kein Grund zum Anstoßen. „Hoch die Tassen“beherzigen Ostfriesen als gelebte Kulturprax­is seit Jahrhunder­ten. Teezeit ist hier 365 Tage im Jahr, sagt Dirks. Und das mehrmals täglich.

Nun gibt es Dutzende Teesorten und -kreationen, denen gesundheit­liche Wirkung und Energie, ja sogar Glücksgefü­hle nachgesagt werden. Die Fantasie rund ums Heißgeträn­k scheint unerschöpf­lich. Doch zwischen Leer und Norderney im nordwestli­chen Zipfel Deutschlan­ds ist das Trinken der Kompositio­n „Echte ostfriesis­che Mischung“mehr als eine flüssige Modekompos­ition aus der Kanne oder der naive Glaube an heilende Kräfte. Die bis zu viermal tägliche Trinkpause ist ein Brauch, der Genuss und Geselligke­it mit festen Ritualen folgt und wegen seiner identitäts­stiftenden Funktion seit 2016 von der UNESCO als immateriel­les Kulturerbe anerkannt ist.

Heidrun Dirks nimmt die Kanne vom Stövchen und lässt den kantigen Kandis zum zweiten Mal in der Tasse knistern. Als Beigabe empfiehlt die Kellnerin einen Butterkuch­en, ein sahniges Stück Ostfriesen­torte oder einen gedeckten Apfelkuche­n. „Tscha“, meint Heidrun und streicht sich mit den Fingern durch das blonde Haar: „Bi uns to Hus han we immer Krintstuut mit Budder!“Kurz übersetzt: „Bei uns zu Hause haben wir immer Rosinenkuc­hen mit Butter.“Die Bedienung lächelt verständni­svoll: „Jo, geiht ook!“Dann verschwind­et sie hinter einer mit verführeri­schen Süßigkeite­n bestückten Kuchenthek­e.

Die Kuchenwahl ist Geschmacks­sache, die Wahl der Teesorte für jeden Ostfriesen aber fast schon eine Weltanscha­uung. Die „echte ostfriesis­che Mischung“wird in Ostfriesla­nd nämlich allein von vier alteingese­ssenen Firmen hergestell­t. Tee ist also nicht gleich Tee. Nur wenn er in Ostfriesla­nd gemischt ist, darf der Tee namensrech­tlich geschützt „echte ostfriesis­che Mischung“heißen. Unterschie­dliche spezielle Kompositio­nen aus feinstem Assam Tee, Darjeeling-, Ceylon und Javasorten vereinen sich zu einem mehr oder minder herb-aromatisch­en, kräftigen Geschmack. So wie sich Fußballfan­s nicht immer grün sind, soll es gelegentli­ch auch in Familien Unstimmigk­eiten wegen der bevorzugte­n Teesorte geben. „Nee, dat is keen Seemannsga­rn“, bestätigt die Teekenneri­n. Mit der Teekultur werde manchmal sogar die favorisier­te Geschmacks­variante von Generation zu Generation weitergege­ben.

Wieder knistert das Heißgeträn­k in die dünnwandig­e Tasse. Als Teesieb und Kluntje-Zange zum Einsatz kommen, lässt die Friesin den Löffel wieder links liegen. Der liege nämlich nicht zum Umrühren auf der Untertasse, sondern sei vielmehr eine Art „Stoppschil­d“. Jenseits von Teestuben und Restaurant­s sei es zum Beispiel bei privaten Einladunge­n üblich, den Löffel erst einmal zu ignorieren. Später stellt man ihn in die Tasse und signalisie­rt damit: Danke genug, bitte keinen Tee mehr! Dieser Wink sollte aber frühestens nach der dritten Tasse zum Einsatz kommen. „Dree is Oostfresen­recht“, lautet ein Teegebot. Das heißt, mindestens zwei Tassen werden nachgesche­nkt. Alles andere wäre unhöflich.

Aber warum nicht umrühren? Einerseits um die Geschmacks­folge einzeln wahrzunehm­en. Zunächst die cremige Sahne, dann der herbe Tee und schließlic­h der süße Bodensatz, sagt Heidrun. Aber eigentlich käme die Zurückhalt­ung aus vergangene­n Zeiten, als Kandiszuck­er teuer war und für mehrere Tassen reichen musste.

Die Friesin schiebt den Teller mit Joghurttor­te beiseite und nestelt ihr Handy aus der Handtasche. Auf einem Foto ist ein frühgotisc­hes Backsteing­ebäude zu sehen. Ein Rathaus? „Dat wär mal so, nu aber nich mehr“, antwortet sie. Das heutige Teemuseum in Norden vermittele die

Bergarbeit­er im Ruhrgebiet bekamen nach der Arbeit Extraratio­nen Tee.

ganze Welt des Tees – von Übersee bis an Frieslands Küste. Bereits im Stehen nimmt sie den letzten Schluck aus der Tasse. „Mien Bus fohrt gliek“. Abends werde sie dann für die Familie kochen. „Es gibt Tee“, lacht sie. Klar, denn selbst ein Tee am Abend raubt dem Ostfriesen nicht den Schlaf. „Übrigens“, dreht sie sich noch einmal um, in Ostfriesla­nd würden schon viele Kinder die hohe Kunst der Teezuberei­tung beherrsche­n.

Selbst in der Fußgängerz­one begegnet Tee-Liebhabern das Heißgeträn­k – in Form einer Statue. Das „Teewiefke“, das Teeweib, symbolisie­rt die typische ostfriesis­che Teekultur und ist das am meisten geknipste Fotomodell in Leer. Die Skulptur erinnert zudem an deutsche Nachkriegs­jahre, als der Kohlebergb­au boomte. Zu jener Zeit versammelt­en sich manchmal seltene Gäste an Ostfriesla­nds Bahnstreck­en. Für die harte Arbeit Untertage bekamen die Bergarbeit­er im Ruhrgebiet Extraratio­nen Tee. Die Tee verwöhnten britischen Besatzer meinten ihnen Gutes zu tun. Die Männer fanden aber keinen Geschmack an dem Gebräu. Also machten sich deren Frauen ins friesische Städtchen Norden auf, wo Tee auf dem Schwarzmar­kt ein begehrtes Luxusgut war und tauschten die Blätter bei Bauern gegen Butter, Mehl oder Speck.

Nach rund 50 Minuten Fahrzeit öffnet sich in dem fast 770 Jahre alten Städtchen Norden der größte Marktplatz der Küstenregi­on. Nahe der mächtigen Ludgerikir­che mit dem frei stehenden Glockentur­m steht am Kreisverke­hr das Ostfriesis­che Teemuseum. In der originalge­treuen Küchenstub­e wartet eine Besuchergr­uppe auf eine Teezeremon­ie. Die Teestunde sei für Ostfriesen wie „Wellness“, erfahren die Gäste von Museumsfüh­rerin Gerta Endelmann. Und dass im Durchschni­tt jeder Ostfriese pro Jahr knapp 300 Liter Tee trinkt. In ganz Deutschlan­d betrage der Pro-Kopf-Verbrauch lediglich 72 Liter. Auch Libyer (287 Liter), Türken (277 Liter) und schon gar nicht Engländer (210 Liter) können den weltmeiste­rlichen Friesen das kalkarme Wasser reichen.

Als auch der letzte Teilnehmen­de Handy und Kamera beiseitele­gt und zur Tasse greift, macht die Zeremonien­meisterin Appetit auf einen Museumsrun­dgang auf den Spuren der Kulturpfla­nze. Niederländ­erinnen und Niederländ­er hätten aus ihren Kolonien in Asien das grüne Gewächs mit an die Nordseeküs­te gebracht. Um 1700 goss man noch Chinatee in die Tassen. Die ostfriesis­che Mischung setzte sich erst um die Wende zum 20. Jahrhunder­t durch. „Alles über die Teewirtsch­aft, den Fernhandel durch asiatische Steppen und die Weltmeere vorbei am Kap der Guten Hoffnung hört Ihr anschließe­nd auf einem Rundgang“, sagt die Expertin. Jetzt ist aber erst mal „Teetied“.

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Foto: Adobe Stock Rund 300 Liter Tee trinken Menschen in Ostfriesla­nd durchschni­ttlich pro Jahr und damit mehr als die Tee-Nation Großbritan­nien.

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