Die Seelensuche lässt Nicolas Hebert nicht los
Der französische Autor mit Krumbacher Wurzeln hat einen neuen Roman veröffentlicht. Wie er die gesellschaftlichen Entwicklungen der Gegenwart einschätzt und was er vermisst.
Geradezu bedrängend grell ist das Pink des Buchumschlags, darauf abgebildet eine regelrechte Batterie an grüngelben Pillen: Und da ist dieser Titel, in übergroßen, aber gleichermaßen seltsam schmal und zerbrechlich wirkenden Buchstaben. „Le blues de la prostate“(„Der Blues der Prostata“). Der Blick auf das Buch, es ist ein beklemmendes Gefühl. In welchen Abgrund, aber auch in welche Lebenswidersprüche führt es hinein? Es ist der fünfte Roman von Nicolas Hebert aus Nantes/Frankreich, der vielen durch seine literarische Spurensuche nach seinem Krumbacher Großvater bekannt ist. Und nun dieses Buch über den „Blues der Prostata“, über einen schwer kranken Mann, der den Tod vor Augen hat. Mit Blick auf all die Krisen und Umbrüche der Gegenwart gar ein Gesellschaftsroman über die Untiefen unserer Zeit? So weit möchte Hebert nicht gehen. Doch das Buch sei eine „akute, auch humoristische Kritik an unserer Welt“. Das ist in diesen wechselvollen Zeiten eine geradezu nachhallende Botschaft.
Nicolas Hebert? So mancher erinnert sich vielleicht noch an seine Auftritte beim Krumbacher Literaturherbst in den Jahren 2016 und 2017. Die Fahrten nach Krumbach, sie waren für ihn auch eine Suche nach sich selbst. 2016 stellte Hebert im Mittelschwäbischen Heimatmuseum seinen Roman „L’Homme de Krumbach“(„Der Mann aus Krumbach“) mit stark autobiografischen Zügen vor. Hebert schildert darin seinen Krumbacher Großvater Hans Paul Schneider (1905 bis 1977), der als Soldat der Nazi-Luftwaffe während des Zweiten Weltkriegs auf einem Platz nordöstlich von Niederraunau junge Soldaten und Hitlerjungen an einfachen Segelfluggeräten ausbildet.
Schneiders Tochter Lydia (1933 bis 2010) wächst in Krumbach auf (die Familie lebt vorübergehend im Weiskopf-Haus) und geht Anfang der 1950er-Jahre als Aupair-Mädchen nach Großbritannien, dann nach Frankreich. Sie heiratet einen Journalisten, am 1. Mai 1960 wird Nicolas Hebert als jüngster von drei Söhnen in Paris geboren. Seine Mutter spricht kein Deutsch mit ihm, erzählt ihm nichts über ihre deutsche Vergangenheit und den Krumbacher Großvater. Doch diese Dimension seines Lebens lässt Hebert nicht los. Er studiert Germanistik (später unterrichtet er in seinem Wohnort Nantes unweit der Atlantikküste in einem Gymnasium und an der Universität Deutsch) und begibt sich 2010 in Krumbach auf Spurensuche. Es entsteht der autobiografisch geprägte Roman „L’Homme de Krumbach“, es folgen „Avril 42“(„April 42“, erneut geht es um ein Familienschicksal im Zweiten Weltkrieg, vorgestellt 2017 in Krumbach) und drei weitere Romane.
2021 fährt Hebert mit seinen drei Kindern nach Krumbach. Es sei ihm darum gegangen, die Krumbacher Lebensweise gemeinsam mit seinen Kindern zu erleben, im Biergarten, beim Eis beim Italiener, im Freibad, aber auch beim Blick auf Häuser mit einer besonderen Geschichte wie dem Weiskopf-Haus. Und sie sollten hier die
Klangfärbung der Sprache hören, die ihre Großmutter sprach.
Nun schreibt Hebert mit „Le blues de la prostate“ein Buch über einen schwer erkrankten Mann, einen Schriftsteller, der „sich sterben sieht“(qui se voit mourir). Dieser Mann blickt in einer Art „Selbstseelensuche“auf sein Leben – in einer Mischung aus Realität, Fiktion und Traum. Kindheit, Liebe, Abgründe, Leichtigkeit, Schwere und Tiefe überlagern sich. Der Leser mag in all dem auch so manche Parallele zu den Abgründen und Turbulenzen der heutigen Zeit erkennen. Zu einer Zeit, in der beispielsweise die Erinnerung an die Gründung der Bundesrepublik im Jahr 1949 zu einem geradezu staatstragenden Medienereignis wird – und sich parallel Nachrichten über Angriffe auf Politiker häufen. Und neue Formen des Radikalismus das Leben zu vergiften drohen.
Die Widersprüche und Brüche der Gesellschaft nimmt Hebert angesichts seines französisch-deutschen Lebenshintergrunds gleichsam aus einer doppelten Perspektive wahr. „Hier kennen wir leider die gleichen Probleme wie in Deutschland, Spanien, Italien und im Grunde in ganz Europa.“Er sieht eine Tendenz, dass sich die Länder immer mehr voneinander abkapseln.
Die Probleme im jeweils eigenen Land würden die des Nachbarn in den Hintergrund rücken. Hebert nennt die Namen Charles de Gaulle, Konrad Adenauer oder auch Helmut Schmidt: „Früher hatten wir weltweit Politiker und Politikerinnen von Format. Heute gibt es solche Leute nicht mehr. ‘Unglücklich das Land, das Helden nötig hat’, schrieb Brecht in seinem ‘Galileo Galilei’“. In Heberts Leben spiegelt sich die deutsch-französische Versöhnung nach dem Zweiten Weltkrieg. Sein französischer Großvater war während des Ersten Weltkriegs (1914 bis 1918) Soldat an der Westfront, zwei seiner Brüder sind gefallen. Sein deutscher Großvater war während des Zweiten Weltkriegs (1939 bis 1945) Soldat der Wehrmacht.
Heute arbeitet einer seiner Söhne (Hebert hat zwei erwachsene Söhne und eine erwachsene Tochter) bei der Niederlassung der deutschen Heinrich-Böll-Stiftung in Paris.
Alle drei Kinder sind mit der deutschen Sprache und Kultur vertraut. Aber was wird bleiben vom „deutsch-französischen Tandem?“Und welche Sprache? „Immer weniger Schülerinnen und Schüler wählen Deutsch als Fremdsprache. Das macht mich traurig“, sagt Hebert. Besondere Gedenkjahre wie 1949 würden zwar mitunter eine hohe mediale Aufmerksamkeit erfahren, aber im Gedächtnis der Menschen kaum mehr eine Rolle spielen. „Abgesehen von Historikern, Germanisten und einigen belesenen Politikern ist 1949 nur noch das Geburtsdatum etwa eines Großvaters oder der Schwiegermutter.“
Hebert nennt den 11. November (der Tag, der 1918 das Ende des Ersten Weltkriegs und den Sieg der Alliierten markiert). Dieser Tag bedeute für seine Schüler und Studenten so gut wie nichts. „Die meisten haben keine Kenntnisse mehr, was diesen Tag betrifft.“Können Gedenktage dann noch wirklich tief greifend „identitätsstiftend“sein und die Menschen erreichen? Die Dimension von „Identität“, sozusagen „die Suche nach der Seele“, lässt Hebert zeit seines Lebens nicht los. In seinem jetzt erschienenen Roman ist er auf eine geradezu raumgreifende Weise er selbst, sein Buch über den „Blues“, es ist wohl mehr als zuvor seine ganz persönliche Botschaft.
„Jede Suche nach der eigenen Identität ist eine schmerzliche, aber auch notwendige. Es ist der Preis, um sich gut zu fühlen und mit anderen Menschen besser zu leben“, betont er. All das prägt auch sein aktuelles Buch. „Es ist kein Buch für Moralprediger und Konformisten, ganz im Gegenteil.“Es sei ein „freies Buch, also natürlich auch provokativ“. Es sei für ihn als Autor eine „Übung und Herausforderung“gleichermaßen gewesen. Das lässt allein schon der Umfang mit 338 Seiten ahnen (beim „Homme de Krumbach“waren es 152 Seiten).
Eine Rückkehr zum Literaturherbst? „Das scheint mir unnatürlich. Nicht, dass ich es nicht will. Ich wurde 2016 und 2017 hervorragend empfangen und ich habe rührende Augenblicke erlebt. Aber das neue Buch ist eine Fiktion, sie hat mit Krumbach und meiner einstigen Suche hier nichts zu tun.“Doch vielleicht mehr als zuvor ist der „Blues“in so mancher Passage auf eine einfühlsame Weise eine Art Gleichnis seiner selbst und seines Lebens.
Das Eintauchen in all das, die „Seelensuche“– es lässt den Autor und wohl auch den Menschen Hebert auf eine sympathische Weise nicht los.