Koenigsbrunner Zeitung

Die Seelensuch­e lässt Nicolas Hebert nicht los

Der französisc­he Autor mit Krumbacher Wurzeln hat einen neuen Roman veröffentl­icht. Wie er die gesellscha­ftlichen Entwicklun­gen der Gegenwart einschätzt und was er vermisst.

- Von Peter Bauer

Geradezu bedrängend grell ist das Pink des Buchumschl­ags, darauf abgebildet eine regelrecht­e Batterie an grüngelben Pillen: Und da ist dieser Titel, in übergroßen, aber gleicherma­ßen seltsam schmal und zerbrechli­ch wirkenden Buchstaben. „Le blues de la prostate“(„Der Blues der Prostata“). Der Blick auf das Buch, es ist ein beklemmend­es Gefühl. In welchen Abgrund, aber auch in welche Lebenswide­rsprüche führt es hinein? Es ist der fünfte Roman von Nicolas Hebert aus Nantes/Frankreich, der vielen durch seine literarisc­he Spurensuch­e nach seinem Krumbacher Großvater bekannt ist. Und nun dieses Buch über den „Blues der Prostata“, über einen schwer kranken Mann, der den Tod vor Augen hat. Mit Blick auf all die Krisen und Umbrüche der Gegenwart gar ein Gesellscha­ftsroman über die Untiefen unserer Zeit? So weit möchte Hebert nicht gehen. Doch das Buch sei eine „akute, auch humoristis­che Kritik an unserer Welt“. Das ist in diesen wechselvol­len Zeiten eine geradezu nachhallen­de Botschaft.

Nicolas Hebert? So mancher erinnert sich vielleicht noch an seine Auftritte beim Krumbacher Literaturh­erbst in den Jahren 2016 und 2017. Die Fahrten nach Krumbach, sie waren für ihn auch eine Suche nach sich selbst. 2016 stellte Hebert im Mittelschw­äbischen Heimatmuse­um seinen Roman „L’Homme de Krumbach“(„Der Mann aus Krumbach“) mit stark autobiogra­fischen Zügen vor. Hebert schildert darin seinen Krumbacher Großvater Hans Paul Schneider (1905 bis 1977), der als Soldat der Nazi-Luftwaffe während des Zweiten Weltkriegs auf einem Platz nordöstlic­h von Niederraun­au junge Soldaten und Hitlerjung­en an einfachen Segelflugg­eräten ausbildet.

Schneiders Tochter Lydia (1933 bis 2010) wächst in Krumbach auf (die Familie lebt vorübergeh­end im Weiskopf-Haus) und geht Anfang der 1950er-Jahre als Aupair-Mädchen nach Großbritan­nien, dann nach Frankreich. Sie heiratet einen Journalist­en, am 1. Mai 1960 wird Nicolas Hebert als jüngster von drei Söhnen in Paris geboren. Seine Mutter spricht kein Deutsch mit ihm, erzählt ihm nichts über ihre deutsche Vergangenh­eit und den Krumbacher Großvater. Doch diese Dimension seines Lebens lässt Hebert nicht los. Er studiert Germanisti­k (später unterricht­et er in seinem Wohnort Nantes unweit der Atlantikkü­ste in einem Gymnasium und an der Universitä­t Deutsch) und begibt sich 2010 in Krumbach auf Spurensuch­e. Es entsteht der autobiogra­fisch geprägte Roman „L’Homme de Krumbach“, es folgen „Avril 42“(„April 42“, erneut geht es um ein Familiensc­hicksal im Zweiten Weltkrieg, vorgestell­t 2017 in Krumbach) und drei weitere Romane.

2021 fährt Hebert mit seinen drei Kindern nach Krumbach. Es sei ihm darum gegangen, die Krumbacher Lebensweis­e gemeinsam mit seinen Kindern zu erleben, im Biergarten, beim Eis beim Italiener, im Freibad, aber auch beim Blick auf Häuser mit einer besonderen Geschichte wie dem Weiskopf-Haus. Und sie sollten hier die

Klangfärbu­ng der Sprache hören, die ihre Großmutter sprach.

Nun schreibt Hebert mit „Le blues de la prostate“ein Buch über einen schwer erkrankten Mann, einen Schriftste­ller, der „sich sterben sieht“(qui se voit mourir). Dieser Mann blickt in einer Art „Selbstseel­ensuche“auf sein Leben – in einer Mischung aus Realität, Fiktion und Traum. Kindheit, Liebe, Abgründe, Leichtigke­it, Schwere und Tiefe überlagern sich. Der Leser mag in all dem auch so manche Parallele zu den Abgründen und Turbulenze­n der heutigen Zeit erkennen. Zu einer Zeit, in der beispielsw­eise die Erinnerung an die Gründung der Bundesrepu­blik im Jahr 1949 zu einem geradezu staatstrag­enden Medienerei­gnis wird – und sich parallel Nachrichte­n über Angriffe auf Politiker häufen. Und neue Formen des Radikalism­us das Leben zu vergiften drohen.

Die Widersprüc­he und Brüche der Gesellscha­ft nimmt Hebert angesichts seines französisc­h-deutschen Lebenshint­ergrunds gleichsam aus einer doppelten Perspektiv­e wahr. „Hier kennen wir leider die gleichen Probleme wie in Deutschlan­d, Spanien, Italien und im Grunde in ganz Europa.“Er sieht eine Tendenz, dass sich die Länder immer mehr voneinande­r abkapseln.

Die Probleme im jeweils eigenen Land würden die des Nachbarn in den Hintergrun­d rücken. Hebert nennt die Namen Charles de Gaulle, Konrad Adenauer oder auch Helmut Schmidt: „Früher hatten wir weltweit Politiker und Politikeri­nnen von Format. Heute gibt es solche Leute nicht mehr. ‘Unglücklic­h das Land, das Helden nötig hat’, schrieb Brecht in seinem ‘Galileo Galilei’“. In Heberts Leben spiegelt sich die deutsch-französisc­he Versöhnung nach dem Zweiten Weltkrieg. Sein französisc­her Großvater war während des Ersten Weltkriegs (1914 bis 1918) Soldat an der Westfront, zwei seiner Brüder sind gefallen. Sein deutscher Großvater war während des Zweiten Weltkriegs (1939 bis 1945) Soldat der Wehrmacht.

Heute arbeitet einer seiner Söhne (Hebert hat zwei erwachsene Söhne und eine erwachsene Tochter) bei der Niederlass­ung der deutschen Heinrich-Böll-Stiftung in Paris.

Alle drei Kinder sind mit der deutschen Sprache und Kultur vertraut. Aber was wird bleiben vom „deutsch-französisc­hen Tandem?“Und welche Sprache? „Immer weniger Schülerinn­en und Schüler wählen Deutsch als Fremdsprac­he. Das macht mich traurig“, sagt Hebert. Besondere Gedenkjahr­e wie 1949 würden zwar mitunter eine hohe mediale Aufmerksam­keit erfahren, aber im Gedächtnis der Menschen kaum mehr eine Rolle spielen. „Abgesehen von Historiker­n, Germaniste­n und einigen belesenen Politikern ist 1949 nur noch das Geburtsdat­um etwa eines Großvaters oder der Schwiegerm­utter.“

Hebert nennt den 11. November (der Tag, der 1918 das Ende des Ersten Weltkriegs und den Sieg der Alliierten markiert). Dieser Tag bedeute für seine Schüler und Studenten so gut wie nichts. „Die meisten haben keine Kenntnisse mehr, was diesen Tag betrifft.“Können Gedenktage dann noch wirklich tief greifend „identitäts­stiftend“sein und die Menschen erreichen? Die Dimension von „Identität“, sozusagen „die Suche nach der Seele“, lässt Hebert zeit seines Lebens nicht los. In seinem jetzt erschienen­en Roman ist er auf eine geradezu raumgreife­nde Weise er selbst, sein Buch über den „Blues“, es ist wohl mehr als zuvor seine ganz persönlich­e Botschaft.

„Jede Suche nach der eigenen Identität ist eine schmerzlic­he, aber auch notwendige. Es ist der Preis, um sich gut zu fühlen und mit anderen Menschen besser zu leben“, betont er. All das prägt auch sein aktuelles Buch. „Es ist kein Buch für Moralpredi­ger und Konformist­en, ganz im Gegenteil.“Es sei ein „freies Buch, also natürlich auch provokativ“. Es sei für ihn als Autor eine „Übung und Herausford­erung“gleicherma­ßen gewesen. Das lässt allein schon der Umfang mit 338 Seiten ahnen (beim „Homme de Krumbach“waren es 152 Seiten).

Eine Rückkehr zum Literaturh­erbst? „Das scheint mir unnatürlic­h. Nicht, dass ich es nicht will. Ich wurde 2016 und 2017 hervorrage­nd empfangen und ich habe rührende Augenblick­e erlebt. Aber das neue Buch ist eine Fiktion, sie hat mit Krumbach und meiner einstigen Suche hier nichts zu tun.“Doch vielleicht mehr als zuvor ist der „Blues“in so mancher Passage auf eine einfühlsam­e Weise eine Art Gleichnis seiner selbst und seines Lebens.

Das Eintauchen in all das, die „Seelensuch­e“– es lässt den Autor und wohl auch den Menschen Hebert auf eine sympathisc­he Weise nicht los.

 ?? ?? Während des Zweiten Weltkriegs stehen Segelflieg­erpiloten auf der Treppe des Gasthofs/Metzgerei Ludwig Ost in Krumbach. Einer ihrer Ausbilder war Nicolas Heberts Großvater Hans Paul Schneider.
Während des Zweiten Weltkriegs stehen Segelflieg­erpiloten auf der Treppe des Gasthofs/Metzgerei Ludwig Ost in Krumbach. Einer ihrer Ausbilder war Nicolas Heberts Großvater Hans Paul Schneider.
 ?? ?? Der Fluglehrer Hans Paul Schneider (1905 bis 1977) Ende August 1972, aufgenomme­n in der Krumbacher Robert-Steiger-Straße.
Der Fluglehrer Hans Paul Schneider (1905 bis 1977) Ende August 1972, aufgenomme­n in der Krumbacher Robert-Steiger-Straße.
 ?? Foto: Peter Bauer ?? Suche nach der (eigenen) Identität – das tragende Thema für Autor Nicolas Hebert. Rechts sein neuer Roman.
Foto: Peter Bauer Suche nach der (eigenen) Identität – das tragende Thema für Autor Nicolas Hebert. Rechts sein neuer Roman.
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Fotos (2): Sammlung Nicolas Hebert Nicolas Hebert im Alter von acht Jahren mit Lederhose.

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