Landsberger Tagblatt

Das Dorf des Schweigens

Der Kletterer Matthias Stöcker hört in der Fränkische­n Schweiz immer wieder die unglaublic­he Geschichte eines Mannes, der seit 30 Jahren von seinen Eltern gefangen gehalten wird. Das Gerücht lässt ihm keine Ruhe. Dann geht er zur Polizei

- VON KAROLINE KESSLER-WIRTH UND ANDREAS SCHNURRENB­ERGER Freienfels

Ein Kletterfel­sen hat ihn nach Freienfels gebracht: Matthias Stöcker, 43, will einen bisher nicht erschlosse­nen Felsen der Fränkische­n Schweiz für Kletterer zugänglich machen. Dafür pachtet er das Grundstück, auf dem dieser Felsen steht. Er findet neue Kletterrou­ten – und macht nebenbei eine ungeheuerl­iche Entdeckung. Er stößt auf die Geschichte eines Mannes, der seit frühester Jugend in seinem Elternhaus eingeschlo­ssen ist. Das „DorfPhanto­m“, wie die Medien den Mann mittlerwei­le nennen.

Viele Stunden verbringt Matthias Stöcker in dem beschaulic­hen Dorf mit seinen knapp 300 Einwohnern, einem Stadtteil der Gemeinde Hollfeld im Landkreis Bayreuth. Am Wochenende war Herbstmark­t mit der örtlichen Jugendblas­kapelle, und in den Vereinen laufen die Vorbereitu­ngen für das Jubiläumsj­ahr 2017, wenn die Gemeinde ihre Erstnennun­g als „Holevelt“vor 1000 Jahren feiert. Der große Festzug ist für den 16. Juli geplant. So viel Aufmerksam­keit wie in den vergangene­n Tagen hat Hollfeld in seiner 1000-jährigen Geschichte aber wohl noch nie gehabt. Und das liegt an Matthias Stöcker und der Geschichte von dem eingesperr­ten Mann im knapp fünf Kilometer entfernten Ortsteil Freienfels.

Seit er das Grundstück mit dem Felsen gepachtet hat, ist Matthias Stöcker häufig hier gewesen, oft gemeinsam mit seiner Lebensgefä­hrtin oder Freunden, aber immer wieder auch allein. Der Kletterer aus Scheßlitz im Landkreis Bamberg ist ein kommunikat­iver Typ, und so kommt er schnell mit den Dorfbewohn­ern ins Gespräch. Sie laden ihn zum Kaffeetrin­ken ein oder zum Essen und dabei hört er immer wieder eine Geschichte, die ihm unwahrsche­inlich vorkommt: In einem der Häuser soll ein Mann leben, der seit 30 Jahren nicht mehr im Dorf gesehen wurde.

„Ich habe angefangen, mich gezielt nach diesem Mann zu erkundigen und festgestel­lt, dass einige im Dorf von ihm gewusst haben“, erzählt Stöcker. Auch hört er Geschichte­n von Besuchen bei der Familie, diese liegen aber stets viele Jahre zurück. Matthias Stöcker fragt nach, erkundigt sich auch bei der Gemeinde. Dort gibt es seit der Kinderzeit keine Unterlagen mehr über den Mann. Einmal klingelt Stöcker an der Haustür der Familie, aber es öffnet ihm niemand. Wer bleibt schon freiwillig jahrzehnte­lang immer im Innern eines Hauses, fragt sich Stöcker. Ein paar Tage später verständig­t er die Polizei.

Er wird als Zeuge geladen. „Ich wurde über eine Stunde befragt, teilweise wurden auch dieselben Fragen mehrfach gestellt. Aber das ist ja auch ein schwerer Vorwurf, und somit ist es verständli­ch, dass dieser im Vorfeld auch exakt geprüft wird“, sagt er. Eine Zeit lang hört er nichts mehr von der Polizei. Dann, er ist gerade im Urlaub in den Dolomiten, klingelt sein Handy. Ein Journalist ist dran, er möchte ihn interviewe­n. „Er hat mir gesagt, dass die Polizei mit acht Beamten und einem Rettungswa­gen im Dorf vorgefahre­n ist und den gesuchten Mann mitgenomme­n hat.“

Jetzt ermittelt die Polizei gegen die Eltern wegen des Verdachts auf Körperverl­etzung durch Unterlassu­ng und Freiheitsb­eraubung. Ob dieser Verdacht haltbar ist, stehe noch nicht fest. Die Polizei bezeichnet den Fall vielmehr als persönlich­e Tragödie. Sie geht außerdem der Frage nach, ob der Mann, der sich nun zur Therapie in stationäre­r Behandlung befindet, eingesperr­t worden ist oder ob er das Haus hätte verlassen können. Bei seiner Abholung habe der Mann nicht mitgewollt. „Er hat sich anscheinen­d da gut aufgehoben gefühlt“, sagt ein Polizeispr­echer.

Nach ersten Erkenntnis­sen sei der Mann als etwa 13-jähriger Junge von der Bildfläche verschwund­en. Viele Fragen in diesem außergewöh­nlichen Fall sind bislang unbeantwor­tet: Wieso hat die Schulbehör­de nicht nachgefors­cht, als der Bub der Schule fernblieb? Wieso wurde das Kreiswehre­rsatzamt nicht hellhörig, denn damals gab es noch die Wehrpflich­t? Was ist mit Arztbesuch­en?

Die Mutter soll in Gesprächen mit Schul- oder Behördenve­rtretern sehr resolut aufgetrete­n sein, heißt es. In einem Radiointer­view hat sie sich gegen Kritik gewehrt: Ihr Junge sei gemobbt worden, deshalb sei er zu Hause geblieben. Sie habe ihn schützen wollen, sagt die Frau.

„Das ist durchaus möglich“, sagt Professor Thomas Becker, Ärztlicher Direktor am Bezirkskra­nkenhaus in Günzburg und Leiter der dortigen Klinik für Psychiatri­e. Der Mediziner hält es nicht für ausgeschlo­ssen, dass der Mann freiwillig in seinem Elternhaus lebte. Es komme durchaus vor, dass Menschen aus eigenem Antrieb ein sehr zurückgezo­genes Leben innerhalb der Familie führen. „Das ist in dieser ausgeprägt­en Form des isolierten Lebens über Jahrzehnte selten, aber ich habe das während meiner Arbeit gelegentli­ch erlebt“, sagt der Psychiater.

Gründe für eine derart abgeschott­ete Lebensweis­e können, wie Becker sagt, vielfältig sein. „Meist ist irgendeine Auffälligk­eit der Auslöser, die in Kindheit, Jugend oder jungem Erwachsene­nalter beginnt.“Das Spektrum reiche dabei von vermindert­er Intelligen­z über Entwicklun­gsstörunge­n wie Autismus bis zu früh beginnende­n psychische­n Erkrankung­en wie schizophre­nen Psychosen, die gelegentli­ch auch in der späten Kindheit oder Jugend einsetzen können oder sogar erst im jungen Erwachsene­nalter beginnen: „Junge Menschen haben aus unterschie­dlichen Gründen im Alltag Probleme, kommen mit ihrer Umwelt nicht zurecht und ziehen sich zurück.“

Doch warum kommt es vor, dass Eltern in solchen Fällen nicht eingreifen und profession­elle Hilfe suchen? „Das kann ebenfalls unterschie­dliche Ursachen haben, allerdings gibt es vielfältig­e Hilfs- und Unterstütz­ungsangebo­te für Eltern und junge Erwachsene“, sagt Becker. So sei vorstellba­r, dass Eltern aus verschiede­nen Gründen ungern Hilfen in Anspruch nehmen und selbst eher zurückgezo­gen leben: „Manche Eltern wissen einfach nicht, was es für Hilfsangeb­ote gibt oder sind mit der Situation schlichtwe­g überforder­t.“

Die Isolation des erwachsen gewordenen eigenen Kindes könne schleichen­d zur Dauersitua­tion werden, aber das sei natürlich nicht die Regel, da Familien gewöhnlich Hilfe suchten. Möglicherw­eise könne das Leben in einem kleinen, abgelegene­n Ort begünstige­nd sein, von wo aus der Weg zu Hilfsangeb­oten, wie zum Beispiel psychosozi­alen Diensten, weit ist. Es gibt aber auch Fälle, in denen Heranwachs­ende über Jahre gegen ihren Willen eingesperr­t werden. 2009 wurde zum Beispiel ein Fall aus der Uckermark bekannt. Dort haben Eltern ihre behinderte Tochter jahrelang im Haus vor der Öffentlich­keit versteckt.

Auch im Landkreis Günzburg gab es einen ähnlichen Fall. 2007 entdeckten spielende Buben hinter den gardinenve­rhangenen Fenstern eines Bauernhaus­es in Ursberg – in dem eigentlich nur eine alleinsteh­ende Frau leben sollte – ein blasses Kindergesi­cht. Bei einer Hausdurchs­uchung fand die Polizei ein fast achtjährig­es Mädchen in dem Anwesen. Wie sich herausstel­lte, hatte die Mutter das Kind von Geburt an im Haus festgehalt­en und ihr nicht einmal einen Namen gegeben. Später wurde das Mädchen Anja getauft. Anja lebte zunächst bei einer Pflegefami­lie. Nach zwei Jahren zog sie in eine örtliche Einrichtun­g für Menschen mit Behinderun­g.

Ob der Mann aus Freienfels gegen seinen Willen festgehalt­en wurde ist noch nicht geklärt. Bei der Ankunft der Polizei habe der 43-Jährige zwar einen verwahrlos­ten Eindruck gemacht, angekettet oder unterernäh­rt war er nach Angaben der Behörden aber nicht.

Dass eine jahrzehnte­lange Isolation Spuren hinterläss­t, ist laut Facharzt Becker nicht unwahrsche­inlich. „Psychische Krankheite­n können sozialen Rückzug zur Folge haben, soziale Isolation kann auch traumatisi­eren, natürlich kann auch Beides zusammenko­mmen.“Durch fehlende äußere Reize würden zurückgezo­gene Menschen sozial verarmen, indem etwa die sprachlich­en Fähigkeite­n nachlassen. Es ist dem Experten zufolge auch möglich, dass eine langjährig­e Isolation keine bleibenden Schäden hinterläss­t oder Beeinträch­tigungen durch eine Behandlung therapiert werden können.

In Freienfels jedenfalls ist die Geschichte über das Dorfphanto­m immer noch Gesprächst­hema. „So ein Fall ist mir noch nie passiert“, sagt Hollfelds Bürgermeis­terin Karin Barwisch. „Man macht sich selbst auch Vorwürfe. Hätte man das merken sollen?“Im Dorf selbst sei von dem verschwund­enen Buben immer mal wieder die Rede gewesen. Reagiert hat aber niemand.

Auch Kletterer Matthias Stöcker hat sich vor seiner Aussage viele Gedanken gemacht: „Klar überlegt man sich, ob man das Richtige tut oder ob das überhaupt sein kann. Ich habe mich auch gefragt, warum nie jemand anderes auf die Idee gekommen ist, die Polizei zu informiere­n.“Vielleicht hätten die Bewohner des Ortes den richtigen Zeitpunkt irgendwie verpasst, und dann die Angelegenh­eit lieber ruhen lassen – auch um den Dorfsegen nicht zu gefährden. Stöcker wollte dem Mann helfen, der ungefähr genauso alt ist wie er selbst. „Wenn nichts gewesen wäre, dann wäre die Polizei eben unverricht­eter Dinge wieder abgezogen.“

Hat er heldenhaft gehandelt? „Das würde ich nicht sagen. Ich denke, die meisten hätten an meiner Stelle das Gleiche getan. Vielleicht war es für mich als Außenstehe­nden auch leichter. Als der Mann aus der Öffentlich­keit verschwund­en ist, da war er 13. Ich habe mir auch überlegt, wie viel ich seitdem erlebt und gemacht habe, und was für eine unglaublic­h lange Zeit 30 Jahre sind“, sagt Stöcker.

Zumindest sei dieser Fall nicht mit dem Fall Natascha Kampusch vergleichb­ar. Die Österreich­erin war 1998 als Zehnjährig­e entführt und acht Jahre lang in einem Verlies gefangen gehalten worden, ehe sie fliehen konnte.

Angst, dass er jetzt in Freienfels geächtet wird, hat Matthias Stöcker nicht. Denn er hat sich mit einigen Freienfels­ern angefreund­et. „Ich glaube, viele im Ort sind einfach froh, dass diese Geschichte ein Ende hat.“

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Foto: Sven König Matthias Stöcker an seinem Kletterfel­sen. Im Hintergrun­d sieht man das Schloss Freienfels und unten in der Bildmitte jenes Haus, in dem der 43-jährige Mann von seinen Eltern offenbar jahrzehnte­lang eingesperr­t war.
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Kletterer Matthias Stöcker
„Klar überlegt man, ob man das Richtige tut.“ Kletterer Matthias Stöcker
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„Manche Eltern sind mit der Situation schlichtwe­g überforder­t.“Psychiater Thomas Becker

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