Der Feind in meinem Spiegel
Schön sein, perfekt sein: Wenn es um gutes Aussehen geht, wächst der Druck. Was für den einen nur ein paar Pickel auf der Stirn sind, sind beim anderen Auslöser einer Krankheit. Eine Leidensgeschichte, die das gesamte Leben auf den Kopf stellt
Bad Bramstedt Die Schlacht eines Tages im Leben von Susanne K. beginnt meist mitten in der Nacht. Zwischen drei und vier Uhr. Dann steht sie auf. Ihr Freund schläft. Ihr zwei Jahre alter Sohn auch. Sie schleicht ins Badezimmer. Blickt kurz darauf ihren Feind das erste Mal an. Sich selbst. Im Spiegel. Entdeckt darin, was sie immer entdeckt. Ein von furchtbar unreiner Haut entstelltes Gesicht. Ekelhaft. Kaum auszuhalten. Sie holt sich andere Spiegel zu Hilfe. Beleuchtet jeden Quadratmillimeter ihres Gesichtes. Beginnt, dagegen anzukämpfen.
Waschen, cremen, schminken. Das Ergebnis betrachten. Angewidert sein davon. Waschen, cremen, schminken. Es wird nicht besser. Von nun an kämpft Susanne K. mit Fingernägeln und Pinzette. Kratzt, kneift. Wieder cremen, schminken. Eine Stunde geht das. Zwei. Immer wieder legt sie ihr Gesicht in die rechte Hand, schüttelt den Kopf. Verzweifelt. Mit zitterndem Kinn. Macht weiter. Drei Stunden. Vier. Meist ist es schon heller Morgen, wenn sie damit aufhört. Erschöpft und ausgelaugt, bevor der Tag losgeht. Und immer nur leidlich zufrieden mit dem Ergebnis. Mit der Angst, dass sie sich niemandem zumuten kann.
Jahre geht das schon so. „Das ist ein Leben in permanenter Spannung“, sagt Susanne K., norddeutscher Akzent, weiche Stimme, 32 Jahre alt, dunkelblonde Locken, blaue Augen, schwarzes Strickkleid. Nur leicht geschminkt. Als Teil der Therapie. Sie sitzt in einem Besprechungszimmer der Schön-Klinik für psychosomatische Erkrankungen in Bad Bramstedt, einer Kleinstadt knapp fünfzig Kilometer nördlich von Hamburg. Die Klinik ist ein am Waldrand entlang gestreckter Backsteinkomplex, einen Kilometer außerhalb der Stadt gelegen. Für das jüngste Fachgebiet ist die SchönKlinik zugleich die einzige stationäre Anlaufstelle in ganz Deutschland. Für Menschen wie Susanne K. Die unter einer Krankheit leiden mit dem Namen „Körperdysmorphe Störung“. Menschen, die an sich einen Makel entdecken, der sie fortan nicht mehr in Ruhe lässt. Sich in den Mittelpunkt ihres Lebens drängt.
Als leitender Psychologe dieser Fachabteilung beschäftigt sich Christian Stierle damit, vierzig Jahre alt, mittelgroß, Glatze, schwarze Brille. „Die Leidensgeschichte unserer Patienten ist in den meisten Fällen sehr lang“, sagt er. Weil die Hemmschwelle enorm hoch sei, wenn es um den eigenen Körper ginge, käme der Schritt zur Therapie oft sehr spät. Oder überhaupt nicht. Sodass die Dunkelziffer dieser Krankheit hoch ist. Bis zu zwei Prozent der Bevölkerung, sagen Studien, sind mehr oder weniger stark betroffen. Also fast zwei Millionen Menschen. Davon zu etwa 60 Prozent Frauen.
Besonders schlimm an dieser Krankheit sei es auch, sagt Stierle, dass diese Menschen einen Makel an sich sehen, den Dritte praktisch nicht oder als sehr viel weniger eklatant wahrnehmen. Sodass Betroffene oft innerlich vereinsamen würden. Weil keiner ihre Qualen versteht. „Mein Gott. Du bist doch gesund und siehst ordentlich aus. Sei doch froh. Andere haben wirkliche Sorgen.“Das würden viele seiner Patienten von ihrer Umgebung hören. Was in ihnen oft ein Gefühl hervorrufe, „dass sie eine unsichtbare Mauer von der Außenwelt trennt“.
Ihren Anfang nehme eine Körperdysmorphe Störung zumeist in der Pubertät, der Phase des Bewusstwerdens. Auch über den eigenen Körper, einer gleichzeitig seelisch sehr angreifbaren Phase. Bei labileren Charakteren würden dann Hänseleien oder auch nur unbewusst von anderen Dahergesagtes über das Aussehen den Grundstein legen für große Selbstzweifel. Die sich im Laufe der Zeit bei einigen in Selbsthass wandle.
„Erst ab da kann man dann auch von einer Körperdysmorphen Störung sprechen“, sagt Stierle. Denn frei von Selbstzweifeln seien ja die wenigsten. „Und wer sich mal für mehr als eine Minute intensiv im Spiegel betrachtet, dem fällt bestimmt immer auch was Negatives auf.“Seine Glatze sei objektiv betrachtet auch ein Makel. Weil sie in gängige Schönheitsideale passe. Aber damit zu leben, sei der Schlüssel. Sich mit dem zu arrangieren, was die Natur einem zugedacht hat. Sich nicht in den Makel hineinzusteigern. Was vielen Patienten enorm schwerfällt. „Es ist ähnlich wie bei einem Fleck auf dem Hemd“, sagt Stierle in seinem kleinen Büro im zweiten Stock, „man starrt nur noch auf den Fleck und nimmt nichts anderes mehr richtig wahr.“
Als Makel werden bei der Körperdysmorphen Störung unterschiedlichste Regionen des Körpers wahrgenommen. Manche leiden an ihren Ohren, manche, wie Susanne K., an Unregelmäßigkeiten ihrer Haut, andere an der Nase, den Zähnen, zu vollen Lippen, der Form des Gesichts oder des Kopfes. Weil bei manchen die Scham so weit geht, dass sie sich nicht zu Schönheitschirurgen trauen, legen im Laufe der Krankheit viele selbst Hand an. Schneiden sich in die Lippen, damit Blut abfließt und sie schmaler werden. Kleben die Ohren mit Sekundenkleber an. Brechen sich die Nase, um sie dann gerade zu rücken. Feilen Zähne ab. Und am Ende, sagt Christian Stierle, wenn nichts mehr zu helfen scheint, denkt etwa ein Drittel aller Betroffenen an Suizid. Oder versucht tatsächlich, seinem als sinn- und vor allem wertlos erachteten Leben ein Ende zu setzen.
So weit war es bei Susanne K. noch nicht, als sie vor knapp drei Monaten in die Klinik kam. Trotzdem hat sie einen langen Leidensweg hinter sich. In der Jugend war sie ein Mädchen, das von Gleichaltrigen oft hörte, dass sie gut und süß aussehe. Mit sechzehn Jahren bekommt sie Akne. „Mädel, schau mal mehr nach deiner Haut“, sagt ihre Mutter zu jener Zeit. „Das hat sich eingebrannt bei mir.“Weil sie schon damals ihren Wert sehr über ihr Äußeres definiert. Und die Pickel ihr Selbstverständnis empfindlich stören. Die Bemerkungen der Mutter lassen in ihr eine kleine Welt zusammenbrechen. Der Zweifel an sich selbst begleitet sie von nun an wie ein falscher Freund.
Morgens im Bad braucht sie länger als alle anderen. Viel länger. Mädchen in der Pubertät eben, denkt die Mutter. In der Schule kann sie sich kaum mehr konzentrieren. Ist ständig damit beschäfnicht tigt, ihre Umwelt zu scannen, sich mit den anderen zu vergleichen. Fällt dabei immer durch. Sie kann gut reden. Ist einfühlsam. Jemand, der beliebt ist. Nur sie selbst kann das nicht glauben. Dass jemand wie sie beliebt sein soll. Und noch viel weniger: dass sie hübsch sei. Was viele sagen. Unmöglich. Mit diesen ganzen Pickeln im Gesicht. Es wird schlimmer. Die Zweifel an sich nähern sich langsam einem Hass. Kommt Susanne K. aus der Schule zurück, später von der Ausbildung zur Arzthelferin, ist sie kaputt. Weil der ganze Tag darin besteht, quälende Blicke auszuhalten. Sie hat Angst vor Spiegeln, und doch schaut sie bei jeder sich bietenden Gelegenheit hinein. Um dadurch wieder niedergeschlagen zu sein. Weil das Spiegelbild die Angst vor ihm bestätigt. Mit Anfang zwanzig ist von den Pickeln der Pubertät nicht mehr viel übrig. Trotzdem fließt fast das ganze Geld ihrer Ausbildung in Gesichtskosmetik. Möglichkeiten zu Beziehungen hatte Susanne K. viele. Genutzt hat sie keine. „Ich hatte schon immer Schwierigkeiten mit Nähe“, sagt sie. „Man muss sich ja irgendwie auch mögen, um andere mögen oder sogar lieben zu können.“
In der Therapie lernt sie seitdem, sich zu mögen. Die Spiegel, die sie sonst stets griffbereit hat, musste sie abgeben. Ohne Sicherheitsverhalten den Alltag bestreiten. So nennt man das hier. Noch wichtiger sei allerdings, sagt Susanne K., dass man dem alles dominierenden Makel jene Rolle geben soll, den er verdient: eine Nebenrolle. Zu Beginn der Therapie steht immer eine Übung: Man muss sich vorstellen, dass der Therapeut blind ist. Und sich selbst ihm gegenüber sachlich beschreiben. Ohne Adjektive. Beschreiben statt bewerten. Dass sie kein Gesicht hat wie ein Monster. Sondern nur einige kleine Pickel auf Stirn und Wange. „Das war fast unmöglich für mich“, sagt Susanne K. „Gleichzeitig zeigt das ja, dass der Makel tatsächlich nur ein kleiner Teil von mir ist.“
Trotzdem ist er fast immer übermächtig in ihrem Leben. Ihr Äußeres und was sie davon hält, schiebt sich wie eine Wand vor ihr Inneres und verdunkelt es. Obwohl es in ihr wenig dunkle Stellen gebe. „Eigentlich bin ich ein sehr geselliger Mensch, der gerne Leute um sich hat.“Mit ihren Freundinnen telefoniert sie häufig. Geht es aber darum, sich zu treffen, sagt sie meist kurzfristig ab. Weil der Kampf vor dem Spiegel scheitert. Erfindet Ausreden. Irgendwann glaubt man ihr nicht mehr. Die Freundinnen werden weniger. Vor drei Jahren erst lernt sie ihren ersten Freund kennen. Im Internet. Schiebt das persönliche Treffen lange auf. Schickt ihm zuvor viele zigfach bearbeitete Fotos von ihr. Zu ihrer Überraschung verliebt er sich trotzdem in sie. Es ist die schönste Phase ihres Lebens. Man macht sogar Heiratspläne. Die aber doch immer scheitern. Wegen ihrer Angst vor den Hochzeitsfotos und davor, im Mittelpunkt zu stehen und also mehr oder weniger ausgestellt zu sein. Und irgendwann meldet sich die Krankheit vollends zurück.
Ihre Zeiten im Badezimmer werden wieder länger. Einige Zeit kann
Sie hat Angst, dass sie sich niemandem zumuten kann Heiratspläne scheitern aus Angst vor Hochzeitsfotos
Susanne K. es verheimlichen, schleicht nachts um drei ins Bad, um fertig zu sein, bis ihr Freund um sieben aufsteht. Verlässt gemeinsam mit ihm das Haus, um dann wieder zurückzukehren, weil sie zu ausgelaugt ist, um in die Arztpraxis zu gehen, in der sie arbeitet. Doch ewig geht das nicht gut. Er bekommt ihre vielen Stunden im Bad mit. Und auch der Sex wird selten.
Dann erzählt sie ihm alles. Er will, dass sie eine Therapie beginnt. Sie will es auch. Das Leiden soll endlich ein Ende haben. Sie hat ein Zitat gehört in einem Film, das ihr so gefallen hat, dass sie es aufgeschrieben hat, bevor sie in die Klinik reiste: „Am dunkelsten ist die Nacht vor der Dämmerung.“
Drei Monate ist sie nun hier. In einer Woche wird sie entlassen. Es geht ihr gut. Die Dämmerung ist längst da. Drei Monate Therapie von morgens um acht Uhr bis abends um 18 Uhr haben Wirkung hinterlassen. Susanne K. lässt sich sogar fotografieren. Auch wenn ihr das noch immer nicht leichtfällt. Ob es draußen so bleibt? „Ich hoffe“, sagt sie leise und lächelt.