Frankreich wählt, Europa bangt
Erstmals entscheiden mit dem Unabhängigen Emmanuel Macron und Rechtspopulistin Marine Le Pen zwei Politiker die französische Präsidentschaftswahl, die nicht den etablierten Volksparteien entstammen. Wie kam es dazu?
Emmanuel Macrons Anhänger in der Halle auf dem größten Messegelände von Paris warten nicht ab, bis es 20 Uhr ist. Schon vor der offiziellen Verkündigung der Hochrechnung hat die für sie so frohe Kunde die Runde gemacht: Ihrem Kandidaten ist der Sprung in die zweite Runde der Präsidentschaftswahl gelungen – er könnte damit unmittelbar vor dem Sieg stehen.
Der Enthusiasmus bricht sich Bahn, Frankreich- und EuropaFlaggen werden geschwenkt. Dass diesem Politik-Neuling, der gerade einmal vor einem Jahr, damals noch als Wirtschaftsminister, seine eigene Partei „En Marche!“(„In Bewegung!“) gegründet hatte, ein solcher Aufstieg vorbei an den etablierten Parteien gelingt, erschüttert Frankreichs politische Landschaft.
Auch wenn nicht alle Wähler mit dem Herzen für ihn gestimmt hatten – bei vielen setzte sich in den vergangenen Tagen die Überzeugung eines „nützlichen Votums“durch, da er als einziger linksgerichteter Politiker aussichtsreich schien, um eine Konfrontation von Marine Le Pen und François Fillon zu verhindern. Der 39-Jährige will für einen Neuanfang stehen, das linke und das Lager im Zentrum zusammenführen. Schwerpunkte setzte er im Wahlkampf sowohl auf das Versprechen, die Wirtschaft zu stützen und von Blockaden zu befreien, wie auch auf die Schul- und Bildungspolitik gerade in sozialen Brennpunkten, um mehr Chancengleichheit zu erreichen.
Macron ist nicht nur in Frankreich für viele zum Hoffnungsträger geworden: Auch in vielen europäischen Hauptstädten gibt es große Sympathien für den jungen Reformpolitiker. Denn mehr als jeder andere französische Präsidentschaftskandidat ist Macron ein überzeugter Pro-Europäer, der in diesen für die EU stürmischen Zeiten unerschütterlich an dem Gemeinschaftsprojekt festhält. Zu einem Zeitpunkt, zu dem Rechtspopulisten mit Anti-EU-Parolen auf Stimmenfang gehen, wirbt er unverdrossen für eine Vertiefung der EU und der Eurozone. Auch die Beziehungen zu Deutschland will er verbessern. Deutsche Politiker reagierten entsprechend erleichtert.
Der Ärztesohn aus dem nordfranzösischen Amiens hat eine rasante Karriere hingelegt. Nach den lähmenden Jahren unter Staatschef François Hollande fühlen sich viele Franzosen zu dem Strahlemann hin- gezogen, der Aufbruchstimmung verbreitet und mit seinem sozialliberalen Reformprogramm „Freiheit“für Unternehmen und „Schutz“für Arbeitnehmer miteinander vereinbaren will. Das Lagerdenken zwischen Links und Rechts hält er für überholt. Er präsentiert sich als Anti-System-Kandidat, der für den „Fortschritt“steht.
Macron profitierte aber auch von der Schwäche der sozialistischen Partei, die in Vorwahlen mit Benoît Hamon einen linken Außenseiter gewählt hatte. Mit nur rund sechs Prozent fuhr er ein äußerst enttäuschendes Ergebnis ein. Gestern Abend äußerte sich Hamon noch als Erster mit einer klaren Ansage: „Ich rufe zur Wahl von Emmanuel Macron auf, um den Front National zu schlagen.“Er übernehme die volle Verantwortung für das Ergebnis.
Viele wichtige Prozentpunkte verlor Hamon an den Linkspopulisten Jean-Luc Mélenchon. Der 65-Jährige riss mit seinen Forderungen nach einer radikalen Umverteirechte lung von Wohlstand und einem Abschied Frankreichs aus der EU und der Nato zwar viele Franzosen mit. Dass er auch regieren kann, trauten sie dem wortgewaltigen Volkstribun aber dann doch nicht zu.
Doch während der vierte Platz (20 Prozent) für Mélenchon ein Erfolg ist, herrschte im Städtchen Hénin-Beaumont gestern Abend ein höchstens gedrücktes Triumphgefühl. Es war eine symbolische Entscheidung Le Pens, in dieser nordfranzösischen Hochburg den Wahlabend zu verbringen und nicht in Paris, der strahlenden Hauptstadt der Eliten, wo sie traditionell schwächer abschneidet als auf dem Land. Zwar ließen es sich ihre Anhänger nicht nehmen, „Marine, Präsidentin!“zu skandieren – doch erscheint zur Stunde unwahrscheinlich, dass diese Überzeugung wahr wird: Für die zweite Runde der französischen Präsidentschaftswahl sehen zwei Umfragen Macron klar vor der Rechtspopulistin. In einer Befragung des Instituts Harris Interactive vom Sonntagabend lag Macron bei 64 Prozent, Le Pen bei 36 Prozent.
Le Pen war lange in Umfragen der erste Platz vorausgesagt worden – der Platz hinter Macron ist eine Enttäuschung. Gleichzeitig übertrifft sie ihr eigenes Ergebnis der Wahl 2012 deutlich, als sie an dritter Position landete. Auch überflügelt Le Pen ihren Vater Jean-Marie Le Pen, der 2002 überraschend mit knapp 18 Prozent der Stimmen die zweite Runde der Präsidentschaftswahl erreichte. Er profitierte damals von der Zerstrittenheit und dem Vertrauensverlust der Volksparteien – wie nun seine Tochter.
Denn nicht nur die Sozialisten erfuhren im ersten Wahlgang eine bittere Klatsche, sondern auch die Republikaner. Bei François Fillon wollte man gestern zwar bis zuletzt mit aller Macht daran glauben, dass ein Sieg noch möglich war. Das Kongress-Zentrum im schicken 16. Arrondissement von Paris hatte der republikanische Kandidat angemietet für einen großen Feier-Abend mit Anhängern – die dann ausfiel. Lang waren dort die Gesichter: Es reichte nur für den dritten Platz (19,2 Prozent) für den früheren Regierungschef. Ihm schadeten die Vorwürfe wegen Scheinbeschäftigung seiner Frau und Kinder.
Fillon gestand seine Niederlage ein und kündigte an, in der Stichwahl für Macron zu stimmen. „Die Enthaltung entspricht nicht meinen Genen, vor allem wenn eine extremistische Partei sich der Macht nähert“, sagte er.
„Die Enthaltung entspricht nicht meinen Genen.“
Kandidat François Fillon will Macron wählen