Glutenverzicht ist nicht zu empfehlen
Eine Studie enthüllt, dass es für die allermeisten Bürger keinen Sinn hat, das Eiweiß in Getreideprodukten zu meiden. Im Gegenteil, das kann sogar der Gesundheit schaden
Die kleinen Kuchen in der Theke des US-Bistros sehen verführerisch aus. Aber: „Ist da Gluten drin?“Kellner sind diese Frage gewohnt – rund 200 Millionen Essen pro Jahr werden in den USA glutenfrei geordert. Denn der Verzicht auf das in Verruf geratene Klebereiweiß des Weizens, das auch in den meisten anderen Getreidearten vorkommt, liegt in den USA seit Jahren im Trend. Gründe dafür sind vielfältig: Bei Menschen mit angeborener Glutenunverträglichkeit (Zöliakie), etwa einem Prozent der US-Bevölkerung, löst das Eiweiß eine Dünndarmentzündung mit teils heftigen Darmbeschwerden aus. Auch Blutarmut, Blähungen oder Osteoporose können die Folgen sein. Einige andere Menschen leiden an Weizenallergie oder Glutensensitivität. Auch populäre Bücher wie „Wheat Belly“(„Weizenwampe“) des Arztes William Davis sagen dem Protein als vermeintlich ungesund und dick machend den Kampf an. Auch in Deutschland sind Nahrungsmittelunverträglichkeiten ein immer größeres Thema. Dazu später mehr.
Eine Flut teurer, glutenfreier Lebensmittel findet viele Abnehmer. Jeder zehnte US-Haushalt lebt einer Marktforschungsumfrage zufolge glutenfrei und jeder vierte Amerikaner glaubt, dass Ernährung ohne Gluten für jedermann gesund sei. Für die Herzgesundheit bringt glutenfreie Kost jedoch keine Vorteile, zeigt jetzt eine US-Studie, die im
British Medical Journal veröffentlicht wurde. Vielleicht ist das Weglassen von Gluten sogar ungünstig: Denn mit dem Gluten reduzieren viele auch ihren Vollkornkonsum, der das Herz zu schützen scheint.
„Basierend auf unseren Daten ist eine glutenarme Diät nur mit dem Ziel Herzgesundheit nicht zu empfehlen“, resümiert der Gastroenterologe und Mitautor Andrew Chan von der Harvard School of Medicine. Zusammen mit Benjamin Lebwohl vom Zöliakie-Zentrum der Columbia University in New York hat er Material zweier US-Langzeitstudien ausgewertet: Von 1986 bis 2010 waren dafür alle vier Jahre vielfältige Ernährungs- und Gesundheitsdaten von 110000 Amerikanern gesammelt worden. Je nach Glutenkonsum teilten die Forscher die Teilnehmer in fünf Gruppen ein. „Sogar in der Gruppe mit dem niedrigsten Glutenkonsum gab es dieselben Raten an koronarer Herzerkrankung wie in der Gruppe mit dem höchsten Konsum“, beschreibt Chan. „Gluten ist selbstverständlich schädlich für Menschen mit Zöliakie. Aber beliebte Diätbücher, die mit zufälligen und anekdotischen Beispielen arbeiten, haben die An- sicht befeuert, dass eine glutenarme Diät für jeden gesund ist“, sagt Lebwohl. Wer jedoch auch auf Vollkornprodukte verzichte, laufe Gefahr, gleichzeitig deren schützenden Effekte vor Herzerkrankungen zu verlieren.
Martin Raithel vom Waldkrankenhaus Erlangen sieht das ähnlich. „Vor allem B-Vitamine können das Herz schützen“, sagt Raithel, der Mitglied der Deutschen Gesellschaft für Verdauungs- und Stoffwechselerkrankungen sowie der Deutschen Gesellschaft für Allergologie ist. Ballaststoffe aus Vollkörnern sind zudem wichtige Bestandteile für die Darmflora, regulieren die Darmtätigkeit und lassen den Blutzuckerspiegel langsamer ansteigen. Wer Getreide ohne Grund meide, enthalte dem Körper zugleich wichtige Polyamine vor, etwa Weizenkeimöl, erklärt der Experte.
Mit Blick auf die Herzgesundheit stelle die Studie keine kausalen Zusammenhänge her, aber sei insgesamt sehr detailliert gemacht und über diesen langen Zeitraum auch aussagekräftig, sagt Raithel. Nach seinen Worten haben in Deutschland etwa zwei bis drei Prozent der Menschen Zöliakie. Ein weiteres Prozent leide an Weizenallergie oder Glutensensitivität. „Die Zahlen der Weizen- oder Glutensensitivität werden in der Öffentlichkeit und in den Medien generell überschätzt. Problematisch ist, dass nach den einzelnen Ursachen nicht immer diagnostisch ausreichend gefahndet wird.“Um Klarheit zu bekommen, empfehlen Experten, bei anhaltenden Darmbeschwerden nicht mit Selbsttests aus dem Internet oder beim Heilpraktiker Hilfe zu suchen, sondern sich beim Arzt diagnostizieren zu lassen.
Kinder in der Familie in die glutenfreie Diät einfach mit einzubeziehen, sei für den Nachwuchs sogar gefährlich, warnt Raithel. „Kinder sollten wirklich von allem etwas essen, auch Fleisch und geringe Mengen Zucker“, betont der Darmexperte. „Denn mit jeder Einschränkung von Lebensmitteln verkleinert sich die Vielfalt der Darmflora. Und das ist wiederum ein Risikofaktor für die Entstehung von vielen Erkrankungen.“
Ein Abklingen des GlutenfreiTrends kann Raithel noch nicht feststellen. „Das hängt wohl auch damit zusammen, dass oft über Tierversuche berichtet wird, in denen Gluten schädliche Wirkungen zeigt.“Viele seien dadurch übersensibilisiert. Aber Ergebnisse aus Tierversuchen seien nicht einfach zu übertragen. „Der menschliche Körper reagiert in vielen Fällen komplexer.“
Andrea Barthélémy, dpa