Joachim Kaiser, der letzte Mohikaner
Als Kritiker prägte er nicht nur das Feuilleton der Süddeutschen Zeitung. Er war über Jahrzehnte hinweg eine nationale Instanz für das Theater, die Literatur und vor allem für die Musik. Sein Tod beendet auch eine Ära
Wenn man seine Stimme einmal vernommen, vielleicht im Radio dieses singende Ostpreußisch mit dem rollenden R vernommen hatte, dann konnte man fürderhin nicht anders, als seine zahllosen gedruckten Kritiken zu lesen mit eben diesem Sang im inneren Ohr. Und hatte man ihn einmal gesehen, am Bildschirm oder leibhaftig dozierend an der Münchner Volkshochschule, wie er den Kopf beim Wägen der Worte bedeutungsvoll zur Seite neigte und im entscheidenden Moment nach hinten warf, dann konnte man seinen Texten, ob in der Zeitung oder in einem seiner Bücher, nicht mehr anders begegnen als mit diesem Bild vor Augen – dem Bild des Großkritikers.
Joachim Kaiser war ein halbes Jahrhundert lang die prägende Stimme, die prägende Figur der deutschen Musikkritik. Was Kaiser sagte, was er schrieb, wen er lobte, wen er tadelte, hatte Gewicht, auch in dem Fall, dass man mit ihm einmal nicht einer Meinung sein wollte. Seit 1959 hatte er das für die Süddeutsche Zeitung getan, dort war ihm die Aura zugewachsen, eine maßgebliche Instanz des Kulturlebens zu sein.
Was Kaiser als Kritiker unvergleichlich machte, war seine Passion – er selbst hätte wohl „Pathos“gesagt – für die Sache der Kultur. Seine Autorität weit über die Kreise der Kenner hinaus entstammte seiner Überzeugungskraft, mit der er gerade über so etwas Ungegenständliches wie Musik zu sprechen vermochte. Ob es daran lag, dass er gerade keinen Bogen um die ästhetischen Dinge machte? Wo Musikkritiker (und alle anderen auch) heute dazu neigen, um die „tönend bewegte Form“herumzureden, um nur ja keinen zu überfordern, da machte Kaiser das Gegenteil, hob winzige Details hervor wie jenen Phrasierungsbogen, der, um einen sinnvollen Musikvortrag zu ergeben, sich bis zum letzten Achtel eines Taktes spannen müsse und nicht bloß bis zum vorletzten – und verstand es mit seiner Hingabe, alle, die schon immer glaubten, nichts von Musik zu verstehen, zauberisch für die Sache der Kunst einzunehmen. Sinngemäß äußerte Kaiser einmal: Wenn einer sagt, er liebe die Musik, dann versteht er sie schon – auch, wenn er sagt, er verstehe nichts von ihr. Für solche Sätze verehrte ihn sein Publikum, verzieh ihm auch die ein oder andere professorale Geste.
Die Grundlagen für seine stupende Bildung – er selbst trennte sie scharf von der Vielwisserei – wurden ihm im Elternhaus gelegt. 1928 in dem kleinen Ort Milken in Ostpreußen geboren, wuchs er in der Familie eines Landarztes auf, in der eifrig Musik betrieben wurde. Früh erlernte er das Klavierspiel, frühreif las er bereits den „Faust“und den „Zauberberg“. Prägend in kultureller Hinsicht war für ihn aber auch die Erfahrung der Zeit unmittelbar nach dem Krieg, als all das bisher und vermeintlich „Entartete“auf den jungen Mann einstürzte. „Man konnte sich zwar nichts kaufen“, hat er sich später an den Herbst 1945 erinnert, „aber es öffnete sich die Welt der Kultur“. Und die sog er auf, studierte in Göttingen, Frankfurt und Tübingen, und legte danach einen raschen Aufstieg hin. Als er eine gewitzte Besprechung über Theodor W. Adornos Schrift „Musik und Katastrophe“verfasste, lud ihn der Musikphilosoph zu sich nach Hause ein und empfahl ihn an den Rundfunk in Frankfurt. Wenig später bat ihn Hans Werner Richter zum Treffen der Gruppe 47, jenem Zirkel, in dem in den ersten Jahrzehnten der Bundesrepublik die maßgeblichen deutschsprachigen Literaten zusammenkamen. Hier, bei den Lesungen der Böll, Grass, Bachmann & Co., nahm der eloquente Sprühkopf kein Blatt vor den Mund, hier begegnete er auch einem Mann, der dasselbe tat wie er: Marcel Reich-Ranicki. Die beiden befreundeten sich, legVerbotene ten hier, bei den Treffen der Gruppe, die Fundamente für ihr späteres Renommee als Kritikerpäpste. Mit dem Wechsel zur
Ende der 50er Jahre kam Joachim Kaiser nach München, was fortan sein Zentrum blieb. Hier schrieb er zunächst – neben Rezensionen wichtiger literarischer Neuerscheinungen – auch übers Theater, vor allem aber über Musik. Sein sonstiger Radius war überschaubar, umfasste mit Regelmäßigkeit noch die Festspiele in Salzburg und Bayreuth – Kaiser hat seiner Leidenschaft für Wagner auch in mehreren Büchern gehuldigt. Die andere große Passion war das Klavier. Er kannte die großen Interpreten seiner Zeit, ob Brendel, Gulda oder Rubinstein, schrieb über „Die großen Pianisten“auch ein viel gerühmtes Buch und ein ebensolches über Beethovens 32 Klaviersonaten. 1977 gab er den Posten des SZFeuilletonchefs ab, blieb jedoch leitender Redakteur des Blattes, in dessen Redaktion er am liebsten mit dem Fahrrad fuhr. Kaiser, fast ein halbes Jahrhundert mit seiner Frau Susanne verheiratet (sie starb 2007) und Vater zweier Kinder, schrieb bis weit über die Ruhestandsgrenze hinaus – das heißt: Er schrieb seine Kritiken nicht, er diktierte sie, druckreif, versteht sich.
Dass die Hochkultur mit den Jahren zunehmend ins Hintertreffen geriet, blieb Kaiser nicht verborgen. Er hat darauf mit fatalistischer Gelassenheit reagiert, aber auch mit Melancholie. „Es war durchaus einmal ein sehr deutsches Motto, eine Sache um ihrer selbst willen zu tun und nicht nur ans schnöde Geld zu denken“, hat er unter Bezug auf den abnehmenden Stellenwert der Künste in seinen Lebenserinnerungen geschrieben, die er zusammen mit seiner Tochter verfasste. Nicht ohne Grund trägt diese Autobiografie als Titel das Selbstzitat „Ich bin der letzte Mohikaner“. Auch das bezog sich auf die Entwertung des Ästhetischen, an dessen Bedeutung er zeitlebens glaubte als dem Träger des „Seelischen“, der existenziellen „Tiefe“– für Kaiser fundamentale Kategorien.
Der letzte Mohikaner: So diskutierbar das darin mitschwingende Unbehagen auch sein mag, in einer Hinsicht trifft diese Einschätzung. Einen Großkritiker, wie er einer war, wird es nicht mehr geben. Joachim Kaiser ist am gestrigen Donnerstag nach längerer Krankheit im Alter von 88 Jahren in München gestorben.
Süddeutschen