Warum diese Zwillinge nicht zur Schule gehen
Sudbury Konzept Zwei Schondorfer Buben tun sich nach zwei Jahren „demokratischem Unterricht“schwer auf der Regelschule. Ihre Eltern haben deswegen schon Ärger mit den Behörden
„Das Schönste wäre, wenn die Sudbury-Schule wieder aufmacht.“Christopher und Raphael Annemann vermissen ihre Schule, die, wie berichtet, nach den vergangenen Sommerferien 2016 nicht mehr weiterbetrieben werden durfte. An der Carl-Orff-Schule hielten die beiden Buben es rund drei Wochen aus, dann wollten sie dort nicht mehr hingehen. Und da ihre Eltern Reiner und Charlott Annemann sie nicht dazu zwingen wollten, landete die Sache bereits vor Gericht. Denn in Deutschland gilt die Schulpflicht.
Dass das Landratsamt Bußgelder verhängt, weil Kinder unentschuldigt fehlen, kommt laut dem Sprecher des Landratsamtes Wolfgang Müller durchaus mal vor, eine Gerichtsverhandlung weniger. Das Gericht gab der Behörde recht. „Zehn Kinder aus sechs Familien im Landkreis kommen derzeit ihrer Schulpflicht nicht nach“, erläutert Müller zum Thema Sudbury. Bei den anderen Familien liefen die Bußgeldverfahren noch. Und es gebe Kinder mit Schulunfähigkeitsattest. „Die zweifeln wir nicht an.“Den Zwillingen Christopher und Raphael wurde aber von der Amtsärztin die Schulfähigkeit bestätigt. „Voll doof“sei es dort gewesen, sagt Raphael, sie seien wie kleine Kinder behandelt worden. Damit kommt man einer Antwort näher, warum es zwei 13-jährige Buben an einer üblichen Bildungseinrichtung nicht aushalten: Bei der Sudbury-Schule – weltweit gibt es etwa 72 Schulen nach dem Sudbury-Modell – handelt es sich um eine demokratische Schule, das heißt, die Schulgemeinschaft, also auch die Schüler, entscheiden über ihren Alltag. „Sie haben das System so verinnerlicht“, sagt der Vater über seine zwei Jüngsten und erzählt, dass sie im Justizkomitee gewesen seien, welches sich mit Regelverstößen beschäftige. Seine Söhne hätten ein Bewusstsein ihrer eigenen Person entwickelt, einer Person mit Rechten und Pflichten. „Das will man nicht so einfach hergeben.“
Wenig selbst entscheiden zu können, der Takt der Schulstunden, das viele Stillsitzen, das war den Annemann-Buben zu viel. Mit der Klasse und der Lehrerin habe es keine Pro- bleme gegeben, auch Musik habe Spaß gemacht und die Projektwoche an der COS, sagen sie. Für Christopher war es „lustig, Masken zu bauen“. Die beiden Kinder waren vier Jahre auf einer staatlichen Schule, bevor die Eltern entschieden, sie auf die Sudbury-Schule Ammersee, die 2014 in Ludenhausen gegründet wurde, zu schicken. Beziehungsweise die Kinder hospitierten dort und entschieden sich dann selbst dafür. „Kinder haben genauso das Recht, über existenzielle Lebensentscheidungen mitzuentscheiden“, meint Reiner Annemann.
Drei der vier älteren Kinder hätten Schulprobleme gehabt, schildert seine Frau. Nach Sudbury hätten die Zwillinge anfangs auch in die Schule nach Dießen gehen wollen, da auch ein Freund aus der „demokratischen Schule“dort eingeschult wurde. „Und der fühlt sich dort auch wohl“, sagt Charlott Annemann. Doch den Zwillingen gefiel es bald nicht mehr, sie litten nach den Erzählungen ihrer Mutter. „Sie saßen morgens im Auto und haben geweint.“Hinzu kam, dass die Buben den üblichen Unterrichtsstoff nicht präsent hatten. Denn beim Sudbury-System eignen sich Kinder Wissen aus eigenem Antrieb an. Dass dies klappt, zeigt für Charlott Annemann unter anderem, dass sich ältere Jugendliche zu einer Lerngruppe zusammengeschlossen hätten, um den Quali zu machen. „Bayern sollte den Mut haben, dieses andere, aber bewährte Modell zuzulassen.“
Das Ehepaar Annemann will seine Buben nicht hineinzwingen in das reguläre Schulsystem: „Emotional können die das nicht.“Was auch eine Kindertherapeutin bestätigt habe: Danach seien die Zwillinge völlig normal, aber wenn sie in die Schule müssten, „dann kann man den Therapiebedarf gleich anmelden“. Die Zwillinge stehen auf einer Warteliste bei einer MontessoriSchule. „Man kriegt derzeit keinen Platz auf einer alternativen Schule.“Für Reiner Annemann auch ein Zeichen, Schulpolitik zu hinterfragen. Derzeit sind die Buben zwei Mal beim Freizeittreff, der im Schulgebäude in Ludenhausen angeboten wird, und einmal beim Breakdancen. Die ganze Familie hofft, dass die demokratische Schule wieder aufmachen kann. Oder dass an einer Montessori-Schule ein Platz frei wird. Denn der noch offene Rechtsstreit ist finanziell belastend – und auch emotional: „Wir wollen nicht, dass wir Geldprobleme haben“, sagen die Zwillinge.
Bezüglich der Wiedereröffnung gibt es wie berichtet Gespräche mit der Regierung von Oberbayern. Monika Wernz vom Vorstand verweist auch auf die wissenschaftliche Begleitung durch die LMU. Der Verein würde am liebsten als Schulversuch eingestuft werden. Doch die Zuständigen in München fordern eine Neugründung mit einem neuen pädagogischen Konzept. Abgesehen von der finanziellen Belastung sind Monika Wernz und ihre Mitstreiter dazu auch nicht bereit: „Wir wollen eine Sudbury-Schule etablieren, nicht etwas anderes. Darauf haben wir zwölf Jahre hingearbeitet.“