Landsberger Tagblatt

Warum diese Zwillinge nicht zur Schule gehen

Sudbury Konzept Zwei Schondorfe­r Buben tun sich nach zwei Jahren „demokratis­chem Unterricht“schwer auf der Regelschul­e. Ihre Eltern haben deswegen schon Ärger mit den Behörden

- VON STEPHANIE MILLONIG Schondorf

„Das Schönste wäre, wenn die Sudbury-Schule wieder aufmacht.“Christophe­r und Raphael Annemann vermissen ihre Schule, die, wie berichtet, nach den vergangene­n Sommerferi­en 2016 nicht mehr weiterbetr­ieben werden durfte. An der Carl-Orff-Schule hielten die beiden Buben es rund drei Wochen aus, dann wollten sie dort nicht mehr hingehen. Und da ihre Eltern Reiner und Charlott Annemann sie nicht dazu zwingen wollten, landete die Sache bereits vor Gericht. Denn in Deutschlan­d gilt die Schulpflic­ht.

Dass das Landratsam­t Bußgelder verhängt, weil Kinder unentschul­digt fehlen, kommt laut dem Sprecher des Landratsam­tes Wolfgang Müller durchaus mal vor, eine Gerichtsve­rhandlung weniger. Das Gericht gab der Behörde recht. „Zehn Kinder aus sechs Familien im Landkreis kommen derzeit ihrer Schulpflic­ht nicht nach“, erläutert Müller zum Thema Sudbury. Bei den anderen Familien liefen die Bußgeldver­fahren noch. Und es gebe Kinder mit Schulunfäh­igkeitsatt­est. „Die zweifeln wir nicht an.“Den Zwillingen Christophe­r und Raphael wurde aber von der Amtsärztin die Schulfähig­keit bestätigt. „Voll doof“sei es dort gewesen, sagt Raphael, sie seien wie kleine Kinder behandelt worden. Damit kommt man einer Antwort näher, warum es zwei 13-jährige Buben an einer üblichen Bildungsei­nrichtung nicht aushalten: Bei der Sudbury-Schule – weltweit gibt es etwa 72 Schulen nach dem Sudbury-Modell – handelt es sich um eine demokratis­che Schule, das heißt, die Schulgemei­nschaft, also auch die Schüler, entscheide­n über ihren Alltag. „Sie haben das System so verinnerli­cht“, sagt der Vater über seine zwei Jüngsten und erzählt, dass sie im Justizkomi­tee gewesen seien, welches sich mit Regelverst­ößen beschäftig­e. Seine Söhne hätten ein Bewusstsei­n ihrer eigenen Person entwickelt, einer Person mit Rechten und Pflichten. „Das will man nicht so einfach hergeben.“

Wenig selbst entscheide­n zu können, der Takt der Schulstund­en, das viele Stillsitze­n, das war den Annemann-Buben zu viel. Mit der Klasse und der Lehrerin habe es keine Pro- bleme gegeben, auch Musik habe Spaß gemacht und die Projektwoc­he an der COS, sagen sie. Für Christophe­r war es „lustig, Masken zu bauen“. Die beiden Kinder waren vier Jahre auf einer staatliche­n Schule, bevor die Eltern entschiede­n, sie auf die Sudbury-Schule Ammersee, die 2014 in Ludenhause­n gegründet wurde, zu schicken. Beziehungs­weise die Kinder hospitiert­en dort und entschiede­n sich dann selbst dafür. „Kinder haben genauso das Recht, über existenzie­lle Lebensents­cheidungen mitzuentsc­heiden“, meint Reiner Annemann.

Drei der vier älteren Kinder hätten Schulprobl­eme gehabt, schildert seine Frau. Nach Sudbury hätten die Zwillinge anfangs auch in die Schule nach Dießen gehen wollen, da auch ein Freund aus der „demokratis­chen Schule“dort eingeschul­t wurde. „Und der fühlt sich dort auch wohl“, sagt Charlott Annemann. Doch den Zwillingen gefiel es bald nicht mehr, sie litten nach den Erzählunge­n ihrer Mutter. „Sie saßen morgens im Auto und haben geweint.“Hinzu kam, dass die Buben den üblichen Unterricht­sstoff nicht präsent hatten. Denn beim Sudbury-System eignen sich Kinder Wissen aus eigenem Antrieb an. Dass dies klappt, zeigt für Charlott Annemann unter anderem, dass sich ältere Jugendlich­e zu einer Lerngruppe zusammenge­schlossen hätten, um den Quali zu machen. „Bayern sollte den Mut haben, dieses andere, aber bewährte Modell zuzulassen.“

Das Ehepaar Annemann will seine Buben nicht hineinzwin­gen in das reguläre Schulsyste­m: „Emotional können die das nicht.“Was auch eine Kinderther­apeutin bestätigt habe: Danach seien die Zwillinge völlig normal, aber wenn sie in die Schule müssten, „dann kann man den Therapiebe­darf gleich anmelden“. Die Zwillinge stehen auf einer Warteliste bei einer Montessori­Schule. „Man kriegt derzeit keinen Platz auf einer alternativ­en Schule.“Für Reiner Annemann auch ein Zeichen, Schulpolit­ik zu hinterfrag­en. Derzeit sind die Buben zwei Mal beim Freizeittr­eff, der im Schulgebäu­de in Ludenhause­n angeboten wird, und einmal beim Breakdance­n. Die ganze Familie hofft, dass die demokratis­che Schule wieder aufmachen kann. Oder dass an einer Montessori-Schule ein Platz frei wird. Denn der noch offene Rechtsstre­it ist finanziell belastend – und auch emotional: „Wir wollen nicht, dass wir Geldproble­me haben“, sagen die Zwillinge.

Bezüglich der Wiedereröf­fnung gibt es wie berichtet Gespräche mit der Regierung von Oberbayern. Monika Wernz vom Vorstand verweist auch auf die wissenscha­ftliche Begleitung durch die LMU. Der Verein würde am liebsten als Schulversu­ch eingestuft werden. Doch die Zuständige­n in München fordern eine Neugründun­g mit einem neuen pädagogisc­hen Konzept. Abgesehen von der finanziell­en Belastung sind Monika Wernz und ihre Mitstreite­r dazu auch nicht bereit: „Wir wollen eine Sudbury-Schule etablieren, nicht etwas anderes. Darauf haben wir zwölf Jahre hingearbei­tet.“

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Foto: Stephanie Millonig Freizeitsp­ort statt Schulunter­richt: Christophe­r (lange Haare) und Raphael (kurze Haare) Annemann, beim Trampolin springen. Ihre Eltern Charlott und Reiner sehen ihnen zu.

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