Eine neue Freiheit im Alter – darf das sein?
Gegen Einsamkeit hilft nur Mut. Es muss ja nicht mehr aus Liebe sein, es reicht schon die Verzweiflung
„Und dann kam der Tag, an dem Addie Moore bei Louis Waters klingelte.“
Das ist eigentlich nur der kleine erste Satz eines kleinen hübschen Romanes – und doch steckt darin eine große Frage für das wirkliche Leben im Alter, die sich bereits heute vielen Menschen stellt und künftig wohl noch mehr stellen wird. Allen nämlich, denen es geht wie Addie und Louise. Beide sind gut 70 Jahre alt, die Kinder sind längst aus dem Haus, haben selbst Kinder, leben aber weiter weg. Der Ehepartner ist gestorben, könnte aber auch nur einfach gegangen sein: Jedenfalls leben die beiden allein, meistern jeweils rüstig und tapfer ihren Alltag, leidlich verbunden noch mit der Gesellschaft im Kleinstädtchen. Eigentlich aber sind sie einsam. Und sie wissen, dass die geistige und körperliche Beweglichkeit, über die sie jetzt noch verfügen, jederzeit vorbei sein kann. Aber weil es normal ist, das einfach hinzunehmen, zu ertragen, nehmen sie es eben auch einfach hin, ertragen es. Einander auch nur von Ferne bekannt, wie man halt jemanden kennt, der lange schon in derselben Siedlung, ein paar Straßen weiter, wohnt …
„Und dann kam der Tag, an dem Addie Moore bei Louis Waters klingelte.“
So hat US-Autor Kent Haruf sein letztes Werk also beginnen lassen. 2014, 71 Jahre alt ist er gestorben, es darf wohl als Vermächtnis gelesen werden, was er da als letztes in der erfundenen Kleinstadt Holm passieren lässt, in der er alle seine Romane angesiedelt hat. Seine Addie nämlich traut sich nicht nur, jenem Louis plötzlich einzugestehen, dass sie sehr einsam ist; sie traut sich auch, ihn, den sie immer sympathisch fand, zu fragen, ob es ihm nicht auch so gehe? Ob er das nicht auch kenne, dass die Nächte am schlimmsten sind? Ob er also nicht Lust hätte, sie zu besuchen und bei ihr die Nacht zu verbringen, einfach, um reden zu können, bis man einschlafen kann, und nicht mehr im Dunklen allein die Stille und die Leere aushalten zu müssen. Nein, es geht nicht um Liebe, es geht nicht um Sex. Es geht um eine neue Art der Freiheit zueinander im Alter. Geht das? Darf man das? Einfach so? Einfach probieren?
Das fragt sich zunächst Louis. Als er sich dann aber darauf einlässt und die beiden merken, wie gut ihnen die Gegenwart des anderen tut und die Möglichkeit zum Einander-Erzählen und Sich-Wiederentdecken – da fragen das auch andere im Städtchen, die natürlich automatisch an Liebe und Sex denken. Doch Addie und Louis bestärken einander, dass sie jetzt, in ihrem Alter, nicht mehr kümmern muss, was die anderen denken. Aber ob das auch so bleibt, als sich ihre Kinder aus der Ferne irritiert bis empört melden? Darf es eine solche Freiheit geben?
Kein Wunder, dass für diesen kleinen Roman bereits eine große Verfilmung mit Jane Fonda und Robert Redford in Vorbereitung ist. Denn Kent Haruf rührt damit an etwas, das dunkel und tapfer hinter vielen Haus- und Wohnungstüren schweigt – und das doch auch, ganz ohne Kitsch, Stoff für eine Geschichte des Glücks sein kann: das Leben im Alter. Wenn es denn darf. Und sich lässt. Bevor es zu spät ist.
„Und dann kam der Tag, an dem Addie Moore bei Louis Waters klingelte.“
Kent Haruf: Unsere Seelen bei Nacht. Übs. von Pacio, Diogenes, 208 S., 20 ¤