Seenotretter unter Verdacht
Tausende von Flüchtlingen nehmen Kurs auf Europa. Jetzt wirft der deutsche Innenminister nicht staatlichen Helfern vor, mit Menschenschmugglern zu kooperieren
Gutes Wetter, ruhige See, warmes Wasser – derzeit nehmen so viele Flüchtlinge von Libyen aus übers Mittelmeer Kurs auf Europa, wie kaum jemals zuvor. Die italienische Küstenwache etwa berichtet, innerhalb von 24 Stunden mehr als 4000 Migranten aus Seenot gerettet zu haben. In Italien sind in diesem Jahr nach UN-Angaben bereits rund 93 000 Flüchtlinge angekommen, mehr als 20 Prozent mehr als im Rekordjahr 2016.
Das nordafrikanische Libyen – in mehrere, von rivalisierenden Milizen beherrschte Landesteile gespalten – ist ein Paradies für die Schleuserbanden. Sie haben ein zynisches Geschäftsmodell entwickelt, in dem internationale Hilfsorganisationen eine entscheidende Rolle spielen. Gezielt setzen die Banden darauf, dass die Besatzungen der Rettungsschiffe von Nichtregierungsorganisationen (NGOs), die vor Libyen kreuzen, die Flüchtlinge von den vollgepackten und meist nicht seetauglichen Schlauchbooten retten. Und die Geretteten anschließend in italienische Häfen und damit in die Europäische Union bringen.
Die Rolle dieser privaten Seenotretter gerät immer mehr in die Kritik. Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) sagt: „Die Italiener untersuchen Vorwürfe gegen NGOs. Zum Beispiel, dass Schiffe ihre Transponder regelwidrig abstellen, nicht zu orten sind und so ihre Position verschleiern.“Das löse kein Vertrauen aus. Und er sagt weiter: „Mein italienischer Kollege sagt mir auch, dass es Schiffe gibt, die in libysche Gewässer fahren und vor dem Strand einen Scheinwerfer einschalten, um den Rettungsschiffen der Schlepper schon mal ein Ziel vorzugeben.“De Maizière wörtlich: „Im Moment ist die Instanz, die entscheidet, wer nach Europa kommen darf, eine kriminelle Organisation: die Schlepper. Und das Auswahlkriterium ist das Portemonnaie des Flüchtlings.“Dies sei die „inhumanste Konstellation“.
Bei den Menschen, die derzeit übers Mittelmeer kommen, handelt es sich laut de Maizière vermehrt nicht um vom Bürgerkrieg verfolgte Syrer oder Iraker, „sondern um Afrikaner, insbesondere Westafrikaner, die aus wirtschaftlichen Motiven nach Europa wollen“. Sprecher verschiedener Seenotrettungsorganisationen wiesen die Vorwürfe des Innenministers als „absurd“und „völlig haltlos“zurück.
In der Europäischen Union sorgen die steigenden Flüchtlingszahlen für massive Verwerfungen. Italien fühlt sich von den europäischen Partnern alleingelassen, wehrt sich gegen die Zuweisung weiterer Flüchtlinge und droht damit, die geplante Verlängerung der EU-Überwachungsund Rettungsmission „Sophia“vor der libyschen Küste platzen zu lassen. Die einzige europäische Hoffnung, das perfide Geschäftsmodell der Schlepper irgendwie zu durchkreuzen, hängt derzeit an der von der EU unterstützten libyschen Küstenwache, die viele Beobachter für eine dubiose Söldnertruppe halten. Von ihr will kein Flüchtling gerettet werden. Denn dann wird er auf libyschen Boden zurückgebracht.
Beim Treffen der EU-Außenminister am Montag in Brüssel wurde betont, die libysche Küstenwache weiter zu unterstützen. Außerdem wurde beschlossen, den Export von Schlauchbooten und Außenbordmotoren nach Libyen zu verbieten.