Der Mann, der die Grenze verschiebt
Sportklettern Jahrelang gilt Adam Ondra als Wunderkind der Szene. Nun gelingt dem 24-jährigen Tschechen eine unfassbare Erstbesteigung
Augsburg Ein Rekord, eine Sensation, ein Triumph: In der Kletterszene hat diese Nachricht wie ein Lauffeuer die Runde gemacht. Ein neuer Schwierigkeitsgrad ist eröffnet, eine Barriere durchbrochen. Der erste Mensch auf der Welt klettert im glatten zwölften Schwierigkeitsgrad. Für alle, die klettern, ist das eine unfassbar schwere Route, für alle, die nicht klettern, eine unvorstellbare Linie. Geschafft hat das Adam Ondra – das tschechische Ausnahmetalent, das einstige Wunderkind des Klettersports. Jetzt, mit 24 Jahren, ist ihm gelungen, was alle schon seit einem Jahrzehnt vermuten, er hat die Grenzen des Sports verschoben.
Als 13-Jähriger war Ondra bereits für erste Schlagzeilen gut. Er kletterte damals die schwierigsten Sportkletterrouten der Welt nach – fast noch als Kind. Als er 16 Jahre alt war, durfte er an Weltcup-Wettkämpfen teilnehmen. Gleich in seinem ersten Jahr wurde er Vizeweltmeister und Weltcup-Sieger im Lead-Klettern, dem Sportklettern mit Seil, das Jahr darauf im Bouldern. Zwei Disziplinen dieses Sports, die so unterschiedlich wie Mittelstreckenlauf und Sprint in der Leichtathletik sind.
Keinem Kletterer außer Ondra ist es gelungen, beide Disziplinenwertungen zu gewinnen. Dazu hat Ondra auch draußen am Fels laufend die Szene zum Staunen gebracht. Durch die wenigen Versuche, die er benötigte, um schwierigste Routen zu klettern; durch die schiere Sammlung an durchstiegenen Extrem-Linien. Vergleichbares in so jungen Jahren ist vor ihm niemandem gelungen. Alle fragten sich, was passiert, wenn dieses Wunderkind erwachsen wird, wenn es weiterklettert, wenn es eigene Projekte am Fels realisiert.
Dann hat Ondra vor einigen Jahren die gigantische HanshellerenHöhle bei Flatanger in Norwegen für sich als Kletterer entdeckt und sie in eine Kathedrale des Klettersports verwandelt. Dort machte Ondra schon früh diese 45 Meter lange Route durch das Höhlendach aus. So schwer, dass er nach dem Einbohren der Haken dachte, dass er dieses Projekt nie schaffen kann. Also widmete er sich in der Höhle anderen Routen, bis Ondra spürte, dass es mit dem „Project hard“, so nannte er es jetzt, vielleicht doch klappen könnte.
Sieben Mal reiste Ondra nach Flatanger, um dort einzelne Züge und Zugkombinationen für den kompletten Durchstieg zu trainieren. Zu Hause in Tschechien hat er mit einem Physiotherapeuten zusammengearbeitet, um spezielle Muskelpartien zu kräftigen. Als er nun wieder in Flatanger war, passierte es. Am 3. September bei besten äußeren Bedingungen stieg er in die Route ein. Ondra fühlte sich gut. Als er sich nach einigen Minuten plötzlich am Ruhepunkt hinter der ersten extrem schwierigen Passage befand, merkte er, dass er eine realistische Chance hatte. Dann gab er Gas und vollbrachte das Außergewöhnliche.
Hinterher sagte er, dass Monate und Monate seines Lebens in diesen 20 Minuten kuliminiert seien. Und jeder Aufwand, den er zuvor betrieben habe, sei diese kurze Zeitspanne wert gewesen. Nach dem Durchstieg konnte er nicht vor Glück schreien, Tränen seien ihm stattdessen gekommen, eine Mischung aus Freude, Erleichterung und Aufregung. Deshalb hat er der schwersten durchstiegenen Kletterroute der Welt jetzt einen trügerisch leichten Namen gegeben: „Silence“– Stille.