Man muss nicht immer für die Ewigkeit bauen
Interview Oktoberfest, Flüchtlings-Camps, Pilgerstätten: Eine Münchner Ausstellung beschäftigt sich mit Architekturen, die nur für begrenzte Zeit Bestand haben. Ein Modell mit Zukunft, sagt Architektur-Professor Andreas Lepik
Herr Lepik, ob Camps oder Wohncontainer – temporäre Architektur hat nicht gerade den besten Ruf.
Andreas Lepik: Auch das Zeltlager klingt immer negativ, das ist improvisiert, nicht stabil, und man hat dabei Massen von zusammengepferchten Flüchtlingen im Kopf. Architektur muss in der allgemeinen Vorstellung vor allem dauerhaft sein, das wird schon in der Antike etwa von Vitruv gefordert. So hat sich die Profession ja auch legitimiert: Gebaut wird aus Stein, Ziegel oder Stahl. Doch das Temporäre gehört von Anfang an zur Menschheit und schließlich zu unseren Städten. Man sieht es nur nicht oder redet nicht darüber. Und es spielt weder in der Architekturtheorie noch in der Ausbildung eine Rolle.
Dabei ist gerade für große, zeitlich begrenzte Aufbauten Know-how gefragt. Lepik: Man wundert sich wirklich, wie das indische Kumbh-Mela-Fest alle zwölf Jahre gestemmt wird. Über 30 Millionen Pilger wollen nicht nur ein „Bad in der Unsterblichkeit nehmen“und sich damit zugleich von ihren Sünden befreien. Diese Menschen brauchen auch Unterkünfte, Essen, medizinische Versorgung, Toiletten oder Sicherheitspersonal, das den reibungslosen Ablauf regelt. Dabei ist vorher noch nicht einmal klar, welche Stelle des jeweiligen Flussbetts für diese Megastadt infrage kommt. Es muss also alles sehr schnell gehen. Und wenn das Fest nach anderthalb Monaten vorbei ist, kommt der Fluss mit Hochwasser, und im nächsten Jahr wird auf der Fläche wieder Landwirtschaft betrieben.
Das dürfte bei großen Musikfestivals kaum anders sein.
Lepik: 70 000 Menschen haben kürzlich das Burning Man Festival in der Wüste Nevadas besucht. Seit 1984 entsteht dort jedes Jahr eine Stadt mit allem Drum und Dran – und nach acht Tagen wird alles wieder entfernt. Bis auf den letzten Pappbecher. Im englischen Somerset stimmen die Bauern jedes Jahr darüber ab, ob das Glastonbury-Festival wieder auf ihren Feldern stattfinden darf. Grünes Licht gibt es nur, wenn im Vorjahr alles sauber hinterlassen wurde. Seit 1970 fiel jedenfalls kein Festival aus.
Für den temporären Ausstieg scheinen die Menschen einiges in Kauf zu nehmen.
Lepik: Sicher, da gibt es ein großes Bedürfnis, und mit dem Eintauchen in eine andere „bauliche“Welt fallen auch gewisse Regeln weg. Diese Freiheit tut vielen gut – nehmen wir nur das Oktoberfest, das hier allerdings aus dem Rahmen fällt. Denn die Stadt München mit ihrer nicht gerade geringen Wohnungsnot leistet sich den Luxus, die gut einen Quadratkilometer große Theresienwiese den Rest des Jahres quasi leer zu lassen.
Auch die Ökobilanz solcher Riesenspektakel ist wenig erfreulich. Aber wollen Sie ernsthaft an diesem Münchner Luxus rütteln?
Lepik: Überhaupt nicht! Das gehört dazu, so etwas ist wichtig. Und permanente Bierzelte haben einfach nicht diesen Charme. Wobei wir in Rio tatsächlich ein bleibendes Pendant haben. Dort wird der Karneval mit all den Sambatänzern zwar auf den Straßen gefeiert. Doch um das Ganze etwas zu regulieren und sicherer zu machen, hat der Architekt Oscar Niemeyer 1984 das Sambódromo gebaut. Das ist eine 700 Meter lange Tribünenstraße, durch die seither die Umzüge der Sambaschu- len ziehen. Das Bewegliche ist hier also zu einer festen Größe geworden.
Interessant wird das Temporäre doch, wenn es an Qualität gewinnt.
Lepik: Das ist der entscheidende Punkt, und dafür gibt es ein schönes Beispiel aus Saudi-Arabien. Jeder Moslem sollte einmal im Leben nach Mekka pilgern, also den Haddsch absolvieren. In den 50er Jahren stieg die Zahl aber so sehr an, dass es teilweise zu Massenpanik und fürchterlichen Unfällen kam.
Inzwischen brauchen die Muslime ein Visum.
Lepik: Ja, aber dass es in Mekka so gut funktioniert, hat mit einem schwäbischen Tüftler zu tun. Der Architekt Bodo Rasch wurde 1974 vom saudischen König mit einer Unhalben tersuchung beauftragt, wie man den Hadsch sicherer gestalten kann. Der Stuttgarter, der gleich selbst zum Islam konvertiert ist, entwickelte Zelte aus nicht brennbaren Teflonfasern und ein System für die Aufstellung, das eine schnelle Evakuierung möglich macht. Für Medina konstruierte er solarbetriebene Riesenschirme, die sich tagsüber zum Sonnenschutz für die Pilger aufspannen und nachts wieder zusammenziehen. Getestet hat er den Prototyp übrigens auf der Schwäbischen Alb, und produziert wird bis heute in Baden-Württemberg. Das ist intelligente Globalisierung. Bezeichnenderweise hat Rasch bei Frei Otto gelernt, der sich die kühne Zeltdachkonstruktion fürs Münchner Olympiastadion ausdachte. In solchen Leichtbauarchitekturen steckt überhaupt ein unglaubliches Potenzial.
Wie sehr sollte man das Temporäre denn bei der Stadtplanung mitdenken? Lepik: Wir brauchen Raum für Experimente, für flexible Baustrukturen, um auch kurzfristiges Wohnen möglich zu machen. Das geht nur, wenn nicht jeder Quadratzentimeter zubetoniert ist. Als die Flüchtlingswelle 2015 über uns kam, wurde sofort die große Krise ausgerufen. Architekturbüros und Hochschulen haben sich mit Studien und Ideen zu Flüchtlingslagern nur so überschlagen.
Dabei ist das Thema nicht wirklich neu.
Lepik: Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde Wohnraum für Millionen von Kriegsflüchtlingen geschaffen. In den 90er Jahren sind dann rund 350000 Flüchtlinge aus Jugoslawien gekommen. Die mussten ja auch untergebracht werden. Diese Themen kommen immer wieder, und jedes Mal stehen alle ratlos da und sagen, wir müssen jetzt Flüchtlingslager konzipieren.
Allein im letzten Jahr waren auf diesem Planeten 63 Millionen Menschen auf der Flucht.
Lepik: Die Menschen, die übers Mittelmeer nach Europa kommen, sind ja nur die Spitze des Eisbergs. Innerhalb Afrikas sind immense Flüchtlingsströme unterwegs und Hunderttausende wandern derzeit von Venezuela nach Kolumbien. Wenn Architekten ihre ethische Verantwortung ernst nehmen, müssen sie Lösungen entwickeln, die nicht nur hier in der Mitte Europas passen. Das heißt, wir brauchen temporäre Bauten, die weltweit eingesetzt werden können. Architekten wollen doch immer global tätig werden – das wäre die Gelegenheit!