Wenn jeden Tag Artistik auf dem Stundenplan steht
Bühne An der Staatlichen Artistenschule in Berlin werden Kinder ab der fünften Klasse auf ein Leben im Rampenlicht vorbereitet. Nur wer es wirklich will, kommt weiter.
Berlin Lisa-Marie Georgius gehört zur Elite. Die 17-jährige Berlinerin sitzt auf einer blauen Bodenmatte, ein Bein angewinkelt, eines gestreckt. Während sie spricht, flext sie permanent ihre Füße und streckt immer wieder ihren Oberkörper über das angespannte Bein. Die junge Frau besucht die Staatliche Artistenschule in Berlin. Wer hier die neun Schuljahre durchhält, hat danach eine Zukunft an den größten Varietés, Ensembles und Zirkussen der ganzen Welt vor sich. Wer es hier schafft, gehört zu den besten Artisten der Welt.
Die Zukunft wird in einer Übungshalle in Berlin, Prenzlauer Berg, gemacht: Hier verbringen die Schüler den größten Teil ihrer Ausbildung. Elf Meter misst die Halle an ihrer höchsten Stelle, von der Decke hängen Seile, Tücher und Trapeze. Der orange Laminatboden ist teilweise mit weichen Matten gepolstert, dazwischen stehen Trampoline, Böcke und Schwebebalken. Lisa-Marie ist mit ihrer Klasse zum Üben in der Halle, wie jeden Tag von Montag bis Samstag. Eine Gruppe Jungs schlägt Salti vom Trampolin auf eine Weichbodenmatte, Mädchen sitzen in Gruppen zusammen und dehnen ihre Muskeln und Sehnen. In der Oberstufe, in der auch Lisa-Marie ist, spezialisieren sich die Artisten auf ein Genre. Manche sind besonders begabte Jongleure, andere zieht es in die Luft – jeder findet ein Gebiet, auf dem er oder sie brillieren kann.
Doch der Weg dorthin ist lang. Seit der fünften Klasse ist Lisa-Marie auf der Schule, seit der fünften Klasse hat sie an manchen Tagen von morgens acht bis abends acht Unterricht und fährt regelmäßig samstags in die Schule. Wer diese Schule besucht, ist diszipliniert. Und träumt: von Bühnen, Rampenlicht und Applaus. „Ich will Artistin werden“, sagt Lisa-Marie, „und meine Mutter kannte die Schule.“Deshalb sei sie hier gelandet. Ihre Spezialität ist das Schwungtuch, das an der elf Meter hohen Decke befestigt ist. Während andere Jugendliche in Berlin den Nachmittag genießen, üben sie und ihre Klassenkameradin Paulin Raatz ihre Kür. Beide sind Luftartisten, Paulin am Doppelschwungseil. Die Mädchen drehen sich in der Höhe, schwingen kopfüber und balancieren scheinbar schwerelos im Standspagat in den Seilen. Was so leicht aussieht, erfordert Kraft, Balance, Mut – und jahrelanges Training.
Der Besuch der Schule ist kostenlos. Wer einen Platz im Internat benötigt, muss dafür monatlich 240 Euro bezahlen. Von der fünften bis zur siebten Klasse erhalten die Kinder allgemein bildenden Unterricht wie an einer Realschule. Neben Mathe, Physik und Deutsch treiben sie aber auch 20 Stunden die Woche Sport. Kondition, Kraft und Beweglichkeit stehen hier im Vordergrund, die Kinderkörper müssen sich erst noch etwas entwickeln, bevor sie sich auf eine Artistik-Disziplin spezialisieren. In den zwei Jahren danach, bis sie die Mittlere Reife absolvieren, erhalten sie eine artistische Grundausbildung. In 22 Wochenstunden lernen alle Flickflacks, jonglieren, balancieren auf dem Drahtseil und mehr.
Danach haben die Schüler die Möglichkeit, in drei Jahren entweder einen beruflichen Abschluss zu machen oder das Abitur mit Leistungskurs im Fach Artistik zu absolvieren. 82 Kinder und junge Erwachsene besuchen in diesem Schuljahr die Artistenschule.
Doch manchen ist es zu anstrengend, anderen wird nahegelegt, dass eine Profi-Karriere nicht der richtige Weg für sie sei. „Alle, die hier sind, können nur bleiben, wenn sie herausragende Leistungen bringen“, betont Schulleiter Dr. Ralf Schabel.
Das ist ganz schön viel Druck, der auf den jungen Schultern lastet. Um den guten Ruf der Schule zu halten, muss aber rigoros aussortiert werden. Lisa-Marie und Paulin haben es geschafft. „Aus der fünften Klasse sind nur fünf übrig geblieben“, sagt Lisa-Marie. Paulin erzählt, dass es jetzt, nachdem sich jeder spezialisiert hat, leichter sei.
Das ganze Jahr über fahren ausgewählte Schüler immer wieder auf Zirkusfestivals und treten deutschlandweit, aber auch international auf. Hier sammeln sie wertvolle Bühnenerfahrung und knüpfen wichtige Kontakte: Viele haben schon ein Engagement in Aussicht, bevor sie die letzte Prüfung bestanden haben. Lisa-Marie ist diesen Sommer unter anderem in Frankreich, beim Zirkus-Festival in Le Mans, aufgetreten. Das klingt nach einer spannenden Auszeit. „Urlaub würde ich das aber nicht nennen“, sagt Lisa und lacht laut. Denn der Unterricht in Berlin geht weiter – was die Artisten verpassen, müssen sie selbstständig nacharbeiten.
Für Schulleiter Schabel ist Selbstständigkeit ein zentraler Aspekt im Konzept der Schule: Hier sollen junge Menschen zu Erwachsenen erzogen werden, die sich als freie Artisten behaupten können. Denn selbst wenn die Leidenschaft für den Beruf groß ist, ohne Disziplin schafft es keiner.
Homepage Mehr Infos zur Schule: www.artistenschule berlin.de