Der Herr der Hochrechnungen
Am Sonntag erklärt uns Jörg Schönenborn wieder das Wahlergebnis. Was seine Leidenschaft für Zahlen mit Kartoffelchips zu tun hat – und was er eigentlich werden wollte
Am Sonntag um Punkt 18 Uhr wird er wieder auf Millionen von Bildschirmen erscheinen. Jörg Schönenborn ist der Mann für die Zahlen. Seit 1999 präsentiert er die Wahlsendungen in der ARD. Dabei wollte er eigentlich etwas ganz anderes werden. Wer mit dem 53-Jährigen abends auf ein Bier zusammensitzt, kann mit ihm nicht nur leidenschaftlich über Politik diskutieren, sondern auch über Fußball. Als Kind hat er das große Ziel, eines Tages das „Aktuelle Sportstudio“zu moderieren oder als Radio-Kommentator live aus den großen Stadien zu berichten. Später bringt er es immerhin zum Stadionsprecher seines Heimatvereins Union Solingen und schreibt Spielberichte für die Lokalzeitung.
In der Schule mag er lieber Physik und Mathematik als Sport. Damals gibt es den Begriff Nerd noch nicht, aber vielleicht hätte er auf ihn gepasst. „Ich habe ein entspanntes Verhältnis zu Zahlen“, sagt er einmal im Interview mit unserer Zeitung. Auch seine Begeisterung für Umfragen erwacht schon in Kindertagen. Mit einem Schulfreund diskutiert er die elementare Frage, was besser schmeckt: Erdnussflips oder Kartoffelchips? Weil die Fronten verhärtet sind, ziehen die beiden los und starten eine Meinungsumfrage. Es ist die erste im Leben des Mannes, dem Kollegen später den Spitznamen „Graf Zahl“verpassen werden. Ach ja, falls Sie jetzt auch diskutieren: Die Chips holten damals klar die absolute Mehrheit. Als es um die berufliche Zukunft geht, entscheidet sich Schönenborn gegen Mathe und Physik: Er studiert Politikwissenschaft und Journalistik in Dortmund. Eine gute Entscheidung, auch aus privater Sicht: Schon am ersten Tag an der Uni lernt er seine spätere Ehefrau kennen. Später wird er Reporter für die „Tagesschau“und muss schon früh seine erste Bewährungsprobe bestehen. Als 29-Jähriger berichtet er 1993 live vor Ort über den Brandanschlag auf eine türkische Familie in Solingen. Wie in Trance läuft er durch die Straßen seiner Kindheit. Fünf Menschen sind tot. Sie wurden ermordet. In seiner Heimatstadt. Der junge Journalist kämpft gegen den Kloß im Hals. Doch vor der Kamera gelingt es ihm, die Gefühle auszuschalten. Er wird dafür mehrfach ausgezeichnet.
Auch an hektischen Wahlabenden behält Schönenborn meist die Ruhe – selbst dann, wenn mal wieder der Bildschirm streikt, auf dem er Zahlen und Analysen hin- und herschiebt. Am liebsten hat er es, wenn es möglichst lange spannend bleibt. Ob dieser Wunsch am Sonntag in Erfüllung geht? Auf jeden Fall gibt es neben all den Ergebnissen noch etwas anderes, das Schönenborn interessiert: die Emotionen der Politiker. „Ich glaube, wir können uns gar nicht vorstellen, wie viel körperliche Energie in einen solchen Wahlkampf fließt. Und was dann plötzlich für ein Druck abfällt“, sagt der Moderator. Und er gibt zu, dass er dann oft Mitleid mit den Verlierern hat. Michael Stifter