Horror in Manhattan
Terror Ausgerechnet diese Stadt. Und dann auch noch an Halloween. Was man über den Attentäter weiß, welches Drama hinter dem Tod von fünf Argentiniern steckt und mit welchem bemerkenswerten Trotz die New Yorker reagieren
New York Sirus Minovi glaubt erst an einen Halloween-Scherz. Liegt ja nahe an diesem sonnigen Nachmittag in New York. In ein paar Stunden wird die Nacht hereinbrechen, und dann werden viele wieder durch die Straßen ziehen mit ihren fiesen Masken, Dracula-Zähnen oder eben einer billigen Plastik-Knarre in der Hand. Denkt Sirus, 14 Jahre, Schüler an der Stuyvesant High School im südlichen Teil von Manhattan. Bis die Leute rufen: „Da schießt einer! Weg hier! Er hat eine Waffe!“
Das ist kein Halloween-Scherz. Das ist tödlicher Ernst.
Sirus sieht noch, wie ein Passant auf einen Mann zugeht, um ihn offensichtlich zu beruhigen. Das erzählt er später der New York Times. Und dass der Passant dann die Waffen in den Händen des Mannes gesehen habe und zurückgewichen sei. Stunden später zeigt das amerikanische Fernsehen ein Video, auf dem ein bärtiger Mann mit zwei Handfeuerwaffen zu sehen ist; ein Paintball- sowie ein Luftgewehr, beides relativ ungefährlich. Für seine Horrortat an diesem Halloween-Tag hat er eine andere Waffe gewählt.
Dieser Mann, das steht inzwischen fest, heißt Sayfullo Saipow, ist 29 und stammt aus Usbekistan. Schon wieder Usbekistan, heißt es bald. Istanbul im Januar, St. Petersburg und Stockholm im April – drei Terroranschläge mit 57 Toten gab es bislang in diesem Jahr, die von Tätern mit usbekischer Herkunft verübt wurden. „Usbekistan ist seit Jahren einer der ganz großen Brennpunkte“, sagt Terror-Experte Peter Neumann der Bild- Zeitung.
Sayfullo Saipow also rast kurz nach drei mit einem gemieteten Pick-up-Wagen auf einer Strecke von mehr als 1,5 Kilometern auf einem Radweg durch Radfahrer und Fußgänger, tötet acht Menschen und verletzt rund ein dutzend. Dann rammt der weiße Lieferwagen mit der offenen Ladefläche, dem orangefarbenen Logo der Baumarkt-Kette Home Depot und der Aufschrift „Miete mich ab $19“einen Schulbus und bleibt stehen. Saipow steigt mit den zwei Waffen in den Händen aus, wird von einem Polizisten angeschossen und festgenommen. „Allahu akbar“– Gott ist groß, ruft er angeblich noch.
Die Behörden gehen davon aus, dass Saipow allein gehandelt hat. Gesucht und eine Stunde nach Fahndungsaufruf gefunden wurde gestern von der US-Bundespolizei FBI auch der 32-jährige Mukhammadzoir Kadirov aus Usbekistan, weil er „Informationen zu dem tödlichen Angriff“haben könnte.
Der Weihnachtsmarkt-Anschlag von Berlin oder der Lastwagen-Anschlag von Nizza, die beide von islamistischen Extremisten ausgeführt wurden, könnten als Vorbilder für die Tat gedient haben. Wie in Berlin, Nizza und anderswo sucht sich der Terror von Manhattan seine Opfer wahllos unter Einheimischen und Touristen.
Zwei der Toten sind Amerikaner. Eine Belgierin ist darunter. Und allein fünf stammen aus Argentinien – das grausame Ende einer Reise, die etwas ganz Besonderes werden sollte. Genau 30 Jahre nach ihrem Schulabschluss in Rosario wollen zehn Männer, 48 und 49 Jahre alt, das historische Datum mit einer New-York-Reise feiern. Nach ihrem Abschluss hatten sie sich immer wieder getroffen. Am Samstag beginnt die Reise, die so fröhlich werden soll, am Flughafen Malvinas in Rosario. Über New York geht es erst nach Boston. Dort besuchen sie einen ehemaligen Mitschüler. Dann kehren sie nach New York zurück und treffen am Dienstagmorgen die schicksalhafte Entscheidung, eine Radtour zu unternehmen. Unmittelbar vor dem Anschlag entsteht ein Foto. Die ehemaligen Schüler, mittlerweile leicht ergraut, tragen ein weißes T-Shirt mit der Aufschrift „libre“– frei. Ein Gag, wie ihn Abiturienten gerne machen, wenn sie die Schulzeit hinter sich haben.
Saipows Pick-up hinterlässt auf dem Radweg eine Spur des Schreckens. Augenzeuge Tom Kendrick, der am Tatort vorbeijoggt, berichtet später von Leichen und verstreuten Fahrradteilen. Kendrick findet drei der Todesopfer, die dicht beieinanderliegen. „Es war fürchterlich, es war brutal, es war surreal“, sagt er der New York Times. Saipows Wagen kollidiert in dem Moment mit dem Bus, als die Kinder der Stuyvesant-Schule das Gebäude verlassen. Einige Teenager sehen den Täter; Lehrer und Eltern bringen sie ins Gebäude zurück, alle Türen werden verriegelt.
Ausgerechnet New York – auch so ein Halbsatz, den man gestern oft hört. Schließlich ist dies der schlimmste Terroranschlag in der Stadt seit dem 11. September 2001. Und dann ausgerechnet diese Ge- gend. Der neue World-Trade-Center-Turm und das Denkmal am Ground Zero, das an die fast 3000 Toten des Flugzeug-Attentats erinnern, sind nicht weit entfernt. Das kann kein Zufall sein, sagen viele.
Dass der neuerliche Horror ein Ende findet, ist dem 28-jährigen Streifenpolizisten Ryan Nash zu verdanken. Nash ist vor Ort gerade mit einer Routinesache beschäftigt, als er Saipow aus dem Pick-up springen sieht und ihm hinterherrennt. Er zieht seine Waffe, schießt neunmal und trifft ihn am Bauch. Kollegen stürzen sich auf Saipow und halten ihn fest. Er wird in eine Klinik gebracht und operiert. Die Polizei hofft, Saipow bald vernehmen zu können.
Die Beamten haben viele Fragen an ihn. Der Usbeke ist 2010 mit einer offiziellen Aufenthaltsgenehmigung, einer „Green Card“, in die USA gekommen und lebte zunächst in Florida. Später zog er nach New Jersey, wo er als Lastwagenfahrer und für den Fahrdienst Uber arbeitete. Warum er sich in einem Baumarkt den weißen Lieferwagen mietete, nach Manhattan fuhr und unschuldige Radfahrer tötete, sind Fragen, auf die es noch keine Antworten gibt. Weder die Bundespolizei noch die New Yorker Polizei haben je gegen ihn ermittelt, sagt deren Sprecher John Miller.
Frühere Nachbarn beschreiben ihn als einen Mann, der den amerikanischen Traum leben wollte. Nach seiner Ankunft in den USA wollte Saipow schnell Englisch lernen. Er heiratete, wurde Vater von zwei Kindern und wollte eine Spedition gründen. Kobiljon Matkarow, ebenfalls Zuwanderer aus Usbekistan, der Saipow in Florida kennenlernte, erzählt, der Mann habe Amerika gemocht, er sei glücklich gewesen. Warum er zum Terroristen wurde? Schulterzucken. Die Polizei findet im Lieferwagen handgeschriebene Zettel, auf denen sich der Täter zum IS bekennt. Und bei der Ausführung der Tat habe sich Saipow „fast bis aufs i-Tüpfelchen genau“an Instruktionen gehalten, die der IS in sozialen Medien veröffentlicht hat, sagt Sprecher Miller.
Von Neuem beginnt nun die De-
War der Anschlag von Berlin das Vorbild?
Trump will Verlosung der „Green Card“abschaffen
batte über Einwanderungsbeschränkungen. Präsident Donald Trump hat im Wahlkampf einen generellen Einreisestopp für Muslime verlangt und nach der Amtsübernahme im Januar mehrere Versuche unternommen, einen Bann für Bürger bestimmter muslimischer Staaten einzuführen. Die Pläne wurden von den Gerichten teilweise gestoppt. Für einen Zuwanderer wie Saipow hätte der Muslim-Bann ohnehin nicht gegolten, weil Usbekistan nicht auf der schwarzen Liste betroffener Staaten steht. Nun will Trump die „Green-Card-Lotterie“kippen. Die Verlosung verschafft jährlich bis zu 50 000 Ausländern einen dauerhaften Aufenthaltsstatus mit Arbeitserlaubnis in den USA. Davon profitieren viele Deutsche. Und davon profitierte eben auch Saipow. Trump will stattdessen ein System, das auf den beruflichen Fähigkeiten der Bewerber basiert.
Und wie reagieren die Menschen in Manhattan? Nur Stunden nach der Attacke kommen in der Nähe des Anschlagsortes mehr als eine Million Zuschauer zur traditionellen Halloween-Parade – beschützt von ungezählten Sicherheitskräften. Einer der Schaulustigen, der 60-jährige Michael Spain, sagt, Terroristen dürften nicht die Macht haben, den Menschen die Freude am Leben zu nehmen. „Man muss rausgehen und Spaß haben – sonst gewinnen die.“Für Sonntag ist der New-York-Marathon mit mehr als 50 000 Läufern geplant.