Kazuo Ishiguro: Alles, was wir geben mussten (5)
ENur scheinbar gut betreut, wachsen Ruth, Tommy und Kathy in einem englischen Internat auf. Ihre eigentliche Lebens bestimmung ist: Organe zu spenden.
© 2016 Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlags gruppe Random House GmbH. Übersetzung: Barbara Schaden
s war ein paar Monate nach ihrer ersten Spende, und nachdem sie die schlimmste Phase überstanden hatte, legte ich meine Abendbesuche immer so, dass wir noch eine halbe Stunde draußen sitzen und die Sonne hinter den Dächern untergehen sehen konnten. Man sah jede Menge Fernsehantennen und Satellitenschüsseln und manchmal, direkt gegenüber in der Ferne, auch den glitzernden Streifen des Meers. Ich brachte Mineralwasser und Kekse mit, und wir saßen zusammen und redeten über alles, was uns einfiel. Das Zentrum, in dem Ruth damals war, ist eines meiner liebsten, und ich hätte gar nichts dagegen, wenn ich eines Tages auch dorthin käme. Die Erholungszimmer sind klein, aber komfortabel und behaglich. Alles – die Wände, der Fußboden – ist mit blitzenden weißen Kacheln gefliest, die immer so sauber sind, dass man sich fast wie in einem Spiegelsaal fühlt, wenn man zum ersten Mal hereinkommt. Natürlich ist es nicht so, dass man sich wirklich vervielfältigt sieht, aber ein solcher Eindruck entsteht. Wenn man einen Arm hebt oder jemand sich im Bett aufsetzt, spürt man diese blasse, schattenhafte Bewegung überall auf den Kacheln ringsum. Ruths Zimmer verfügte überdies über weite Schiebefenster, so dass sie vom Bett aus mühelos hinausschauen konnte. Selbst wenn ihr Kopf auf dem Kissen lag, sah sie einen großen Ausschnitt Himmel, und wenn es warm genug war, brauchte sie nur auf den Balkon hinauszutreten und konnte so viel frische Luft schnappen, wie sie wollte.
Ich besuchte sie sehr gern dort, liebte unsere dahinplätschernden Gespräche – den ganzen Sommer hindurch bis in den frühen Herbst hinein saßen wir zusammen auf diesem Balkon und redeten über Hailsham, die Cottages und was uns sonst in den Sinn kam.
„Ich meine“, fuhr ich fort, „dass wir uns in dem Alter, mit elf oder so, wirklich nicht für die Gedichte anderer Leute interessierten. Aber er- innerst du dich noch an Christy? Sie war doch bekannt für ihre Gedichte, und wir blickten deswegen alle zu ihr auf. Nicht mal du, Ruth, hast dich getraut, Christy herumzukommandieren. Nur weil wir sie für eine große Dichterin hielten. Dabei hatten wir keine Ahnung von Poesie. Es war uns völlig egal. Ist doch merkwürdig.“
Aber Ruth begriff nicht, worauf ich hinauswollte. Vielleicht wollte sie es auch nicht begreifen – und uns intellektueller in Erinnerung behalten, als wir jemals gewesen waren. Vielleicht ahnte sie auch, in welche Richtung das Gespräch zielte, und wollte nicht folgen. Jedenfalls stieß sie einen langen Seufzer aus und sagte:
„Wir alle fanden Christys Gedichte damals großartig. Aber ich frage mich, wie sie uns heute gefallen würden. Schade, dass wir keines hier haben, ich wüsste zu gern, wie sie jetzt auf uns wirken würden.“Dann lachte sie und sagte: „Tatsächlich habe ich noch Gedichte von Peter B. Das war allerdings viel später, als wir in Senior 4 waren. Anscheinend schwärmte ich für ihn – weshalb hätte ich sonst seine Gedichte kaufen sollen. Sie sind hysterisch und verrückt. Er hat sich furchtbar ernst genommen. Aber Christy war gut, das weiß ich ganz genau. Komisch, sie gab das Dichten von einem Tag auf den anderen auf, als sie mit dem Malen anfing, und darin war sie nicht annähernd so gut.“
Aber lassen Sie mich zu Tommy zurückkehren. Was Ruth damals im Schlafsaal, im Dunkeln gesagt hatte – dass Tommy an seinen Problemen selber schuld sei –, das dachten damals wahrscheinlich die meisten in Hailsham.
Aber erst durch ihre Bemerkung wurde mir klar, dass die allgemeine Überzeugung, nämlich dass er sich absichtlich nicht bemühte, schon ewig, schon seit den Junior-Klassen die Runde machte. Und während ich so im Dunkeln lag, wurde mir außerdem klar – mit einem gewissen Frösteln –, dass Tommy diese ganzen Schikanen nicht erst seit Wochen oder Monaten erduldete, sondern tatsächlich seit Jahren.
Tommy und ich haben vor nicht allzu langer Zeit darüber gesprochen, und seine eigene Darstellung davon, wie der ganze Ärger begann, deckt sich mit dem, was ich an jenem Abend im Schlafsaal dachte. Alles habe an einem bestimmten Nachmittag im Kunstunterricht von Miss Geraldine angefangen. Bis zu dem Tag, sagte Tommy, habe er immer recht gern gemalt. Aber in dieser Unterrichtsstunde von Miss Geraldine malte Tommy mit Wasserfarben einen Elefanten im hohen Gras, und damit fing es an. Das Bild sei nur ein Scherz gewesen, sagte er. Ich fühlte ihm genauer auf den Zahn, und gewann den Eindruck, dass es mit jenem Bild wie mit vielem anderen in diesem Alter war: Ohne einen besonderen Grund macht man es einfach. Weil man hofft, Lacher zu ernten, oder weil man wissen will, ob man damit Aufsehen erregen kann. Und wenn man es im Nachhinein erklären soll, kommt es einem ganz absurd vor. Solche Sachen haben wir doch alle gemacht. Tommy drückte es zwar nicht ganz so aus, aber ich bin sicher, dass es so sich so verhielt.
Jedenfalls malte er diesen Elefanten auf eine Art, wie man es eher von einem drei Jahre Jüngeren erwartet hätte. Er brauchte nicht länger als zwanzig Minuten für dieses Bild und erntete natürlich Gelächter, aber in anderer Form, als er erwartet hatte. Dennoch wäre die Angelegenheit vielleicht im Sand verlaufen, wäre das Ganze nicht – und das ist die bittere Ironie – ausgerechnet in Miss Geraldines Unterricht passiert.
Miss Geraldine war in jener Zeit unsere unangefochtene Lieblings– aufseherin, freundlich, liebenswürdig und immer bereit, einen zu trösten, wenn man es brauchte, auch wenn man etwas Schlimmes verbrochen hatte oder von einem anderen Aufseher zurechtgewiesen worden war. Wenn sie einen mal selbst tadeln musste, widmete sie einem noch Tage danach besondere Aufmerksamkeit, als hätte sie ein schlechtes Gewissen. Es war einfach Pech für Tommy, dass an jenem Tag Miss Geraldine Kunst unterrichtete und nicht zum Beispiel Mr. Robert oder Miss Emily, die Oberaufseherin, die häufig selbst Kunstunterricht erteilte: Beide hätten Tommy zur Rede gestellt, er hätte dämlich gegrinst, und die anderen hätten das Ganze schlimmstenfalls als matten Scherz abgetan; vielleicht hätten ihn manche für einen echten Clown gehalten.
Aber weil Miss Geraldine eben Miss Geraldine war, lief es anders. Sie betrachtete das Bild mit äußerstem Wohlwollen und Verständnis. Und weil sie wahrscheinlich ahnte, dass Tommy in Gefahr war, ausgegrenzt zu werden, übertrieb sie es in der entgegengesetzten Richtung und meinte vor der ganzen Klasse die Vorzüge dieses Bilds hervorheben zu müssen. Und damit löste sie den Unmut gegen ihn aus.
„Als wir das Klassenzimmer verließen“, erinnerte sich Tommy, „hörte ich sie zum ersten Mal über mich reden. Und es war ihnen egal, dass ich sie hören konnte.“