Kazuo Ishiguro: Alles, was wir geben mussten (16)
Kein Wunder, dass wir dem Wald eine zentrale Rolle bei der geplanten Verschwörung von Miss Geraldine unterstellten.
Allerdings wüsste ich nicht, dass wir je praktische Maßnahmen ergriffen hätten, um Miss Geraldine zu verteidigen; unsere Aktivitäten drehten sich nur darum, immer neue Beweise für das Komplott selbst zu sammeln. Aus irgendeinem Grund waren wir überzeugt, wir könnten damit alle unmittelbaren Gefahren in Schach halten.
Unsere „Beweise“bestanden im Wesentlichen darin, dass wir die Verschwörer bei ihrem Tun beobachteten. Zum Beispiel sahen wir eines Vormittags von einem Klassenzimmer im zweiten Stock aus, wie Miss Eileen und Mr. Roger sich unten im Hof mit Miss Geraldine unterhielten. Nach einer Weile verabschiedete sich unsere Lieblingsaufseherin und ging in Richtung Orangerie davon, aber wir blieben auf unserem Posten und sahen, dass jetzt Miss Eileen und Mr. Roger unten
die Köpfe zusammensteckten und verstohlen miteinander tuschelten, während sie der sich entfernenden Miss Geraldine nachsahen.
„Mr. Roger“, seufzte Ruth kopfschüttelnd. „Wer hätte gedacht, dass auch er dazugehört?“
Auf diese Weise stellten wir eine Liste von Personen zusammen, die wir als Mitverschwörer identifiziert hatten – Aufseher und Kollegiaten, die wir zu unseren Todfeinden erklärten. Und doch, glaube ich, müssen wir die ganze Zeit geahnt haben, wie brüchig das Fundament war, auf dem unser Gespinst ruhte, denn wir waren immer sehr darauf bedacht, Konfrontationen zu vermeiden. Zwar entschieden wir nach intensiven Diskussionen, dass ein bestimmter Schüler an der Verschwörung beteiligt war, fanden dann aber immer einen Grund, um ihn nicht zur Rede zu stellen und noch einmal zu warten, bis wir „wirklich wasserdichte Beweise“hätten. Genauso wie wir uns immer einig waren, dass Miss Geraldine selbst kein Wort davon hören sollte, was wir herausgefunden hatten, damit sie sich nicht umsonst aufregte.
Es wäre zu einfach, wollte ich behaupten, dass Ruth als Einzige an der Geheimwache festhielt, nachdem wir anderen schon aus dieser Sache herausgewachsen waren. Natürlich war ihr die Wache wichtig. Sie wusste schon viel länger von der Verschwörung als alle Übrigen, und das verlieh ihr große Autorität; allein mit der Andeutung, dass die wahren Beweise aus der Zeit stammten, bevor Leute wie ich beigetreten seien – dass es also Dinge gebe, die sie uns noch gar nicht gesagt habe –, konnte sie praktisch jede Entscheidung rechtfertigen, die sie im Namen der Gruppe traf. Wenn sie zum Beispiel den Ausschluss eines Mitglieds verfügt hatte und sich dagegen Widerstand regte, genügte eine düstere Anspielung auf Vorkommnisse, die sie „von früher“wusste. Zweifellos war Ruth erpicht darauf, die Verschwörungstheorie am Leben zu halten. Tatsächlich aber trugen wir alle, denen Ruth ans Herz gewachsen war, unseren Teil dazu bei, die Phantasie aufrechtzuerhalten und weiterzuspinnen, solang es eben ging. Was ich damit sagen will, veranschaulichen ziemlich deutlich die Folgen unseres Schachstreits.
Ich war immer überzeugt gewesen, dass Ruth so was wie eine Schachexpertin sei und mir dieses Spiel beibringen könne. Diese Vorstellung war gar nicht abwegig: In Hailsham begegnete man ständig älteren Kollegiaten, die sich über das Schachbrett beugten, während sie auf Fensterbänken oder auf den Wiesen rund ums Haus saßen, und Ruth blieb oft bei ihnen stehen, um eine Partie zu studieren. Wenn wir dann weitergingen, wies sie mich auf eine Möglichkeit hin, die beide Spieler übersehen hätten. „Erstaunlich beschränkt“, murmelte sie kopfschüttelnd. Das alles trug zu meiner wachsenden Faszination bei, und bald wünschte ich mir nichts sehnlicher, als mich selbst in die Konstellationen der schönen Spielfiguren zu vertiefen. Als ich auf einem Basar ein Schachspiel entdeckte und es zu kaufen beschloss, obwohl es mich entsetzlich viele Marken kostete, rechnete ich also fest mit Ruths Hilfe.
Aber wann immer ich während der nächsten Tage das Thema zur Sprache brachte, seufzte sie oder tat, als hätte sie etwas unheimlich Wichtiges zu erledigen. Als ich sie an einem verregneten Nachmittag endlich zu fassen bekam und wir im Billardzimmer das Brett aufstellten, wies sie mich in das Spiel ein, das mehr oder weniger eine Variante von Dame war. Nach ihrer Darstellung zeichnete sich Schach vor allem dadurch aus, dass sich jede Figur L-förmig vorwärts bewegte – was sie wahrscheinlich aus den Bewegungen des Springers abgeleitet hatte – und nicht, wie bei Dame, in Sprüngen. Ich glaubte ihr nicht und war wirklich enttäuscht, aber ich verkniff mir eine Bemerkung und machte eine Weile mit. Mehrere Minuten lang warfen wir uns gegenseitig die Figuren vom Spielfeld, wobei der Angreifer immer über Eck vorrückte. Das ging so lang, bis ich sie wieder einmal hinauswerfen wollte und sie behauptete, das gelte nicht, weil ich meine Figur in einer zu geraden Linie gezogen hätte.
Daraufhin stand ich auf, packte Brett und Figuren zusammen und ging. Nie sagte ich laut, dass sie keine Ahnung von Schach hatte – trotz meiner Enttäuschung hütete ich mich davor, so weit zu gehen –, aber mein wortloser Abgang war wohl viel sagend genug.
Vielleicht einen Tag später betrat ich Zimmer 20 im Dachgeschoß des Hauses, wo Mr. George Poetik unterrichtete. Ich weiß nicht mehr, ob es vor oder nach dem Unterricht war und wie voll das Klassenzimmer war. Aber ich weiß noch, dass ich einen Stapel Bücher in der Hand hatte und dass ein leuchtender Streifen Sonnenlicht über die Pulte fiel, auf denen Ruth und ein paar andere saßen und redeten, während ich zu ihnen hinüberging.
An der Art, wie sie die Köpfe zusammensteckten, erkannte ich, dass es um die Geheimwache ging, und obwohl der Krach mit Ruth, wie gesagt, wohl erst einen Tag zurücklag, trat ich ohne Hintergedanken auf die Gruppe zu. Erst als ich praktisch direkt vor ihnen stand – vielleicht wechselten sie einen Blick miteinander –, begriff ich mit einem Schlag, was als Nächstes geschehen würde. Es war wie der Bruchteil einer Sekunde, bevor man in eine Pfütze tritt: Man sieht die Lache, man weiß, dass man im nächsten Moment mit dem Fuß im Wasser stehen wird, aber es ist bereits zu spät, dies zu verhindern. Ich spürte die Kränkung, noch ehe sie verstummten und mich anstarrten und noch ehe Ruth sagte:
„Oh, Kathy, wie geht’s? Wenn’s dir nichts ausmacht, wir haben noch kurz was zu besprechen. In einer Minute sind wir fertig. Tut mir Leid.“
Sie hatte das kaum ausgesprochen, als ich mich umdrehte und davonging, wütend eher auf mich selbst als auf Ruth und die anderen. Wie hatte ich mich überhaupt in diese Lage bringen können! Ich war fassungslos, gewiss, aber ob ich auch weinte, weiß ich nicht mehr.