Freiheit und Brutalität in der Netzwelt
Stadttheater Das Landestheater Tübingen überzeugt mit einer vielschichtigen Inszenierung
Landsberg Wer bin ich? Diese einfache Frage wird umso schwieriger zu beantworten, je genauer man hinblickt. Generationen von Philosophen, Soziologen und Psychologen haben sich den Kopf zerbrochen über das Wesen des Menschen und seiner Beziehungen untereinander. Seit der Existenz des Internets und seiner immer besser ausgestalteten virtuellen Welten wird es nicht einfacher die ontologischen und ethischen Grundfragen zu beantworten. Wer bin ich im Netz? Wer könnte ich sein? Und welche Konsequenzen hat mein Handeln in der virtuellen Welt?
Das Landestheater Tübingen (LTT) hat das mehrfach ausgezeichnete Stück „The Nether“der amerikanischen Dramatikerin Jennifer Haley unter der Regie von Sascha Bunge inszeniert. Man denke sich eine perfekt weiterentwickelte Netzwelt. 3-D, alles äußerst realistisch, inklusive Geruch und persönlicher Empfindungen. Eine idealisierte Welt, wie es sie in der Realität nicht mehr gibt. Es könnte die nahe Zukunft sein. Die Menschen im Stück sind Kinder einer Generation, die sich fast ausschließlich im Netz bewegt hat, reale Beziehungen sind kaum vorhanden. Das ist die Ausgangsbasis, aus der sich ein verworrener Thriller mit wechselnden Identitäten entwickelt.
Sehnsüchte, Perversitäten und geheime Fantasien. Liebe, Macht und Kontrolle, all das kann man in einem wunderschönen, virtuellen Raum ohne jegliche Einschränkung ausleben. Die absolute Freiheit, so scheint es. Jeder darf der sein, der er sein möchte, ohne Konsequenzen zu befürchten. In diesem Refugium genannten Raum darf man Kinder und anschließend töten. Sie erstehen einem Moment später wieder auf. Die perfekte Illusion.
Krank? Oder lediglich ein Ventil für Menschen, die ihre Bedürfnisse zu kanalisieren wissen? Einvernehmliche Rollenspiele, die niemandem weh tun? Oder erschaffen Bilder doch reale Monster? Sind die Gedanken nun frei? Und was hat Vorrang: Das Recht auf Privatsphäre oder die Notwenigkeit der Überwachung? Themen, mit denen wir uns seit einiger Zeit und auch in Zu- kunft auseinandersetzen müssen. Themen, die in Serien wie Westworld, Filmen wie Bladerunner oder Romanen von Philip K. Dick schon länger auftauchen. Ein schwieriger Stoff für eine Theaterbühne, möchte man meinen. Doch es funktioniert, was hauptsächlich an dem fantastischen Bühnenbild von Angelika Wedde liegt. Durch unterschiedliche Lichteffekte, mithilfe von Spiegeln, verborgenen Türen und grellen Neonstäben entsteht ein wunderschöner, vielschichtiger Raum. Die gelegentliche Verwirvergewaltigen rung, wo man sich gerade befindet und wer wer ist, macht einen eigenen Reiz aus. Schränken Grenzen nun ein, behindern sie? Oder gewähren sie Schutz und Struktur? Laufen die Bedrohungen aus der grenzenlosen Freiheit außer Kontrolle? Die Ambivalenzen können nicht gelöst werden, weder im Theater noch im realen Leben. Doch ist dem LTT ein unterhaltsames, nachdenklich machendes Stück über Technologie und menschliches Begehren im anbrechenden virtuellen Zeitalter gelungen.